Zur deutschen Sprache
Die Sprache ist ein Bild der Seele ...
www.sprache-werner.info
Zur deutschen Sprache
Die Sprache ist ein Bild der Seele ...
www.sprache-werner.info
Gehirn - Geist / Artikel Übersicht / 5. X-Ach, das Gehirn
 

  < zurück erweiterte Suche Seite drucken
 

Ach, das Gehirn
 Über einige neue Beiträge zu neurowissenschaftlichen Merkwürdigkeiten

 

Neue Rundschau 114/4 (2003), von Helmut Mayer   

"Reize und Empindungen werden vorbewusst verarbeitet. Wichtige mentale Entscheidungen werden getroffen, bevor das Gehirn sich dessen bewusst ist . . . Ein moralisches Vakuum von 300 Millisekunden liegt zwischen dem Auslöser des Verhaltens im Gehirn und dem Bewusstwerden dieser Entscheidung." So doziert die hinreißende Neurowissenschaftlerin Rachel Palmquist in Richard Doolings Roman Brain Storm, um dem zaudernden Objekt ihrer Begierde klar zu machen, dass die Entscheidung schon längst gefallen und zu Tathandlungen überzugehen sei. Ob daraus wirklich etwas wird, oder die Skrupel des verheirateten jungen Anwalts obsiegen, sei hier nicht verraten. Aber woher kommen eigentlich diese 300 Millisekunden, auf die sich Dr. Palmquist beruft?

Sie entstammen einer prominenten neurowissenschaftlichen Theorie, und selbst wenn die Übertragung auf den moralisch-erotischen Anwendungsfall beherzt ist, so ist die Kernaussage richtig wiedergegeben: Es lasse sich experimentell nachweisen, dass Handlungsentscheidungen erst 300 bis 500 Millisekunden nach ihrer Auslösung im Gehirn uns bewusst werden. Also führe kein Weg an der Einsicht vorbei, dass unsere Handlungen durch das Gehirn vorgespurt sind und nicht durch unser bewusstes Ich hervorgebracht werden. Zwar hätten wir noch ein Zeitfenster von ungefähr 100 Millisekunden, um ein bewusstes Veto gegen diese Handlungsanbahnungen einzulegen, aber mehr bleibt vom „freien Willen“ nicht übrig.

Wie sieht nun das Experiment aus, das zu solcher Schlussfolgerung nötigt? Benjamin Libet bat seine Versuchspersonen, eine kleine Handbewegung auszuführen. Diese Handlung sollte nicht im Voraus geplant sein, sondern spontan ausgeführt werden, sobald die Personen den Wunsch, den Drang oder die Neigung dazu in sich vespürten. Die Probanden hatten dabei einen rasch kreisenden Zeiger vor sich, dessen Stellung zum Zeitpunkt ihres empfundenen Entschlusses sie sich merken und anschließend dem Experimentator mitteilen sollten. Dieser Zeitpunkt, so zeigte das EEG, lag die berüchtigten 300 bis 500 Millisekunden nach dem Aufbau eines „Bereitschaftspotentials“ im Gehirn. Libets Interpretation: „Das Gehirn „entscheidet“, eine Handlung auszulösen oder ein solches Auslösen zumindest vorzubereiten, bevor es irgendeine mitteilbare bewusste Wahrnehmung davon gibt, dass diese Entscheidung gefallen ist.“

An diesem Experiment und seiner Deutung ist fast alles merkwürdig, und entsprechend viele Angriffspunkte für Kritik gibt es. Daniel Dennett hat in seinem jüngsten Buch eine recht elegante Analyse einer Voraussetzung gegeben, die Libet implizit in Anspruch nimmt.1) Unumgänglich für seine Interpretation ist ja die Annahme, die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse ?xieren zu können, nämlich des Bewusstwerdens der Handlungsentscheidung und des bewussten Wahrnehmens einer Zeigerstellung. Solche Simultaneität braucht natürlich eine Abschätzung der notwendigen Verarbeitungszeiten von neuronalen Signalen im Gehirn. Wie lange brauchen nun aber die visuellen Signale der Zeigerstellung, um dort anzukommen, wo die Handlungsentscheidung – aufgrund von einlaufenden Signalen aus anderen Hirnbereichen – bewusst wird? Nun, das kommt darauf an, wo dieses „Ich“ des „bewussten Willens“ im Gehirn sitzt. Da man darüber nichts Genaueres weiß, lassen sich eine Reihe von Szenarien des Signalaustauschs im Gehirn entwerfen, die für die 300 bis 500 Millisekunden aufkommen. Natürlich möchte Dennett keines dieser Ad-hoc-Szenarien verfechten. Sie werden nur entworfen, um die Idee der Lokalisierung des bewussten Ich im Gehirn ad absurdum zu führen. Denn selbstverständlich ist eine solche Lokalisierung ein Unding. Sie anzunehmen wäre ein merkwürdiger Rückfall in die von der Hirnforschung zu Recht verworfene Vorstellung einer zentralen Kommandoinstanz – gerne auch „Cartesisches Theater“ genannt – im Gehirn.

Dennetts Entzauberung von Libets Experiment gehört in den Zusammenhang seines Versuchs, den Umriss einer strikt naturalistischen Erklärung unserer moralisch relevanten Entscheidungsfreiheit und der Genese von moralischem Verhalten zu geben. Schließlich hatte Dennett aus den „Darwin Wars“, in denen heftig über die Tragweite darwinistischer Erklärungen gestritten worden war, die Bezeichnung „Ultradarwinist“ davongetragen – und ein populäres Image, das auf eine Inversion seiner theoretischen Ambitionen hinaus lief: Zuerst habe er dem Menschen das Bewusstsein abgesprochen, dann vorgeführt, dass das Prinzip der natürlichen Selektion jeder Moral das Fundament entziehe. Dennett bekam es in diesen Reaktionen mit Befürchtungen gegenüber einem naturalisierten Bild des Menschen zu tun: Wenn alles als Ergebnis des blinden Spiels darwinistischer Algorithmen genommen wird – und genau darin besteht für Dennett eine „naturalistische“ Erklärung –, wo bleibe dann noch Platz für den freien Willen?

Dennett hat also guten Grund, sich des freien Willens noch einmal anzunehmen. Die einzelnen Stationen seines Argumentationswegs – von der Au?ösung des vermeintlichen Problems physikalischer Determiniertheit bis hin zu Überlegungen über kulturelle Evolution – sind zwar im Wesentlichen aus seinen früheren Büchern bekannt. Aber die neue Darstellung gewinnt an Bündigkeit durch den Umstand, dass er sich durchgehend an Einwänden und tief liegenden Bedenken gegen seinen naturalistischen Ansatz orientiert – und an den Intuitionen, die diesen Bedenken zugrunde liegen. Denn darum geht es zuletzt: Dass diese Intuitionen über selbstverantwortetes Handeln im naturalistischen Erklärungsrahmen Bestand haben und, recht betrachtet, nur leer laufendes Räderwerk abgeschafft wird, wenn Freiheit nicht mehr auf tendenziell rätselhafte Weise dem Naturzusammenhang gegenübergestellt wird. Dabei bekommt es Dennett naturgemäß auch mit der Gegenseite zu tun, die im untersuchten Naturzusammenhang, oder gleich konkreter: im Gehirn, nicht ?ndet, was Freiheit ihr verspricht – und deshalb im Namen der Wissenschaft unsere Intuitionen bestenfalls als hartnäckige Illusionen durchgehen lässt. Libets Variante, dem „bewussten freien Willen“ neurowissenschaftlich den Prozess zu machen, ist dafür ein gutes Beispiel.

Dennetts Kritik an Libet ist von ironischer Eleganz: Sie lässt sich sehr weit auf die Voraussetzungen der Interpretation ein, um sie dann ausgerechnet über die insgeheim in Anspruch genommene „cartesische“ Vorstellung eines Orts unserer bewussten Präsenz im Gehirn – Libets „consciuos function“ – stolpern zu lassen. Aber die Merkwürdigkeiten von Libets Experiment beginnen sehr viel früher, nämlich schon bei dem Anspruch selbst, mit einem solchen experimentellen Setting die Willensfreiheit auf die empirische Probe zu stellen. Max Bennett und Peter Hacker setzen daher mit ihrer Kritik an Libets Auffassung von willentlichen Bewegungen sehr viel grundsätzlicher an.2)

Die Versuchspersonen sollen nach Libets Vorstellung die vereinbarte Handbewegung ausführen, wenn sie introspektiv ein Ereignis in ihrem Inneren wahrnehmen oder fühlen, nämlich den „Wunsch, den Drang, die Entscheidung und den Willen« (»desire, urge, decision, and will“), diese Bewegung auszuführen. Aber nichts spricht dafür, dass eine willentliche Handlung von einem vorhergehenden Wunsch, Drang etc. begleitet werden muss. Ich handle nicht unfreiwillig, wenn dies nicht der Fall ist; etwa wenn ich ohne weiter darüber nachzudenken zu meiner Füllfeder greife. Außerdem würde ein empfundener Drang im Gegenteil darauf hinweisen, dass die Handlung unwillentlich geschieht: Dass ich den Drang verspüre zu gähnen, macht mein Gähnen nicht zur willentlichen Handlung. So wie jede Handlung, die man sich verursacht denkt durch einen gefühlten Wunsch, Drang etc., gerade nicht als willentlich angesehen wird. Was nur darauf hinweist, dass Gründe zu handeln und kausale Ursachen eben zweierlei sind. Macht man sich dieses tief greifende Missverständnisss klar, gewinnt Libets Experiment fast schon eine absurde Note. Das Interessanteste an ihm ist, dass die Versuchspersonen überhaupt etwas mit der Anforderung anfangen können, innerhalb der nächsten Minute eine willentliche Handlung auszuführen, aber dies erst dann, wenn sie eine Neigung, Absicht etc. in sich fühlten. Dass sie dann auch wirklich dergleichen zu verspüren meinen, darf freilich nicht als Existenzbeweis der stipulierten Gefühle verstanden werden. Bizarre Rahmenbedingungen bringen bizarre Phänome zum Vorschein – zumal wenn Introspektionen beansprucht werden, die Teil einer verdrehten Auffassung von Willensakten als quasikausalen inneren Ereignissen sind.

Solchen begrif?ichen Verwirrungen und Kategorienfehlern sind Bennett und Hacker in ihrem Buch auf der Spur. Die merkwürdige Theorie der Willensakte, die das Beispiel Libets vor Augen führt, ist dabei nur eine Facette unter vielen in ihrer kritischen Sichtung der Neurowissenschaften. Liest man neurowissenschaftliche Literatur, kann man sich ja schnell überzeugen, dass das Gehirn eine Vielzahl von Aktivitäten ausführt: Es rechnet, konstruiert, glaubt, fühlt, interpretiert, konstruiert Hypothesen, entscheidet. Die Liste lässt sich verlängern und umfasst eine Menge von Tätigkeiten und Fähigkeiten, die uns allesamt recht vertraut sind. Doch auf vertrautem Terrain sind wir deshalb nicht unbedingt. Denn was das Gehirn erfährt und tut, spannt einen Raum des privaten Inneren auf, den wir im Alltäglichen gar nicht in Betracht ziehen. Wir haben es mit einem mentalen Innenraum zu tun, der von außen allenfalls indirekt erschließbar ist. Aus dem beobachtbaren Verhalten kann man nicht sicher auf das schließen, was in diesem verborgenen Inneren abläuft. Nur der Besitzer dieses Innenraums selbst hat direkten Zugang zu ihm: Introspektiv erkennt er, in welchem Zustand er bzw. sein Gehirn ist, sofern man von einer eindeutigen Korrelation mit Gehirnzuständen ausgeht, wie es wissenschaftlich nahe liegt. Dieser subjektive Modus der Erfahrung des Inneren – und damit auch vieler Eigenschaften der Dinge, die ja erst im Gehirn aus Sinnesdaten konstruiert werden, und nicht schlicht da ›draußen‹ sind –, ist fundamental: Mein Schmerz ist nur mir zugänglich, und ich kann nicht wissen, wie sich der Schmerz des anderen anfühlt. Und ebenso ist Bewusstsein ein privates, auf die Perspektive der ersten Person eingeschränktes Phänomen (und aus neurowissenschaftlicher Perspektive eine Eigenschaft oder ein Merkmal des Gehirns bzw. bestimmter neuronaler Netzwerke): Nur ich weiß schließlich, wie sich meine Rotemp?ndung anfühlt, während die anderen vielleicht eine ganz andere Farbe sehen, die bloß von ihnen ›rot‹ genannt wird. Ich, der ich letztlich das Verhalten einer Menge von Neuronen bin, von denen wiederum bestimmte Gruppen das bewusste Ich konstituieren.

Das ist ein Kompositbild aus Elementen, die sich in verschiedenen Zusammenstellungen in fachlichen wie auch populären Veröffentlichungen prominenter Neurowissenschaftler ?nden. Dass sich jedes dieser Elemente tief greifenden Missverständnissen verdankt, sowohl gegenüber den zu erklärenden Phänomenen wie gegenüber den neurowissenschaftlichen Forschungsprogrammen und den von ihnen sinnvoll zu traktierenden Fragestellungen, wollen Hacker und Bennett klarmachen. Max Bennett ist selbst ein renommierter Neurowissenschaftler, der Oxforder Philosoph Peter Hacker ist vor allem als Interpret und Kommentator der Schriften Ludwig Wittgensteins bekannt. Über der Arbeit an seinem großen Kommentar zu den „Philosophischen Untersuchungen“ ist er durchaus nicht zum Philologen geworden, der sich selbstgenügsam in den Labyrinthen der Wittgenstein’schen Texte bewegte. Von Wittgenstein ausgehend, aber ohne Wittgenstein zur Autorität zu stilisieren, hat er sich immer wieder mit Entwicklungen innerhalb der angelsächsischen Philosphie auseinander gesetzt.

Diesen Hintergund gilt es zu beachten, will man nicht gleich über den Titel von Bennetts und Hackers Darstellung, Philosophical Foundations of Neuroscience, stolpern. Er zielt nicht etwa darauf, dass Philosophie ein theoretisches Fundament zur Verfügung stelle. Philosophie, wie die Autoren sie verstehen, leistet vielmehr begrif?iche Klärungsarbeit: Sie steuert der fortgesetzten Versuchung gegen, unseren Wortgebrauch systematisch misszuverstehen. Dazu gehört, sich nicht von bestimmten Beispielen des Wortgebrauchs und den mit ihnen assoziierten Bildern in Bann schlagen zu lassen, sondern den verschiedenen Gebrauchsweisen und ihren Zusammenhängen nachzuspüren. Was so umrissen wird, sind begrif?iche Zusammenhänge, ist die „Grammatik“ von Wörtern oder Wendungen und der von ihnen nicht abtrennbaren Handlungskontexte. Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass Ansprüche auf Erklärung unseres gewohnten psychologischen Vokabulars – wie etwa „denken“, „glauben“, „wissen“, „fühlen“, „bewusst sein“ … – nur dann triftig sein können, wenn die Worte in ihrer üblichen Bedeutung expliziert werden. Selbst wenn der neurowissenschaftlichen Erklärung zugebilligt wird, diesen Gebrauch in irgendeinem Sinne zu fundieren, muss sie damit unsere üblichen Verwendungsweisen einsichtig machen. Keine Anführungszeichen helfen da und auch kein Verweis darauf, jenseits unserer üblichen Sprach- und damit Lebensformen einen neuen Bedeutungsgrund gefunden zu haben; kein Ausweg lässt sich plausibel machen, der von einer Extension der üblichen Bedeutungen ausgeht, welche dann als „folk psychology“ beiseite gesetzt werden könnten. Sieht man sich aber den Gebrauch dieser Wörter unbefangen an, wird hinreichend klar, dass sie nur auf ganze Menchen – allgemeiner auf Tiere einer gewissen Entwicklungsstufe –, nicht auf ihre Teile angewendet werden können: Es ist nicht etwa empirisch falsch, vom denkenden, fühlenden, wahrnehmenden etc. Hirn zu sprechen: Es ist ein Kategorienfehler.

Dieser „mereologische Trugschluss“ vom Subjekt auf einen seiner Teile, auf das Gehirn nämlich, ist grundlegend für die meisten anderen neurowissenschaftlichen Verzeichnungen. Das fatale Modell des privaten Innenraums wird nämlich durch ihn für die Hirnforschung adaptierbar. Aber dieses Modell beruht auf einem schiefem Bild: Weder müssen wir uns durch Hinwendung zu einem solchen prinzipiell privaten Inneren vergewissern, dass wir bestimmte Dinge wissen, glauben oder fühlen, noch lässt sich die Unterscheidung zwischen direktem und bloß indirektem Zugang aufrechterhalten: Ich erkenne die Schmerzen des anderen an seinem Schmerzverhalten; dass er sie verbergen oder vortäuschen kann, rechtfertigt durchaus nicht die Konstruktion eines mentalen Sonderbereichs. Und meine Schmerzen habe ich – und brauche, um das zu wissen, weder in mein Inneres noch auf mein Verhalten zu schauen.

Die Sache wird noch verquerer, wenn die „Qualia“ bemüht werden und plötzlich Probleme der Art auftauchen, unsere Rotemp?ndung angesichts eines roten Gegenstands oder das Schmerzhafte unserer Schmerzen irgendwie erklären zu wollen. Bennett und Hacker bemühen sich geduldig um den Nachweis, dass hier die Sprache auf fast schon paradigmatische Weise feiert. Sie tut es auch dann, wenn den Farben und Düften „draußen“ ihre objektive Existenz abgesprochen wird – eine recht alte Geschichte, die durch die Ankoppelung an das Gehirn nichts gewinnt. Ebenso wenig wie die reduktionistischen Fantasmen, die unsere Fähigkeiten und unser Verhalten als Funktion von Neuronen verstehen wollen. Ich bin nicht das Verhalten meiner Neuronen (F. Crick), ich bin nicht einmal mein eigenes Verhalten. Das Bewusstsein oder das ›Ich‹ ist kein bestimmter Verbund von Neuronen, obwohl es eine interessante Frage ist, welche neuronale Basis bewusste Phänomene haben.

Die Neurowissenschaften sind ohne Zweifel ein fruchtbares Feld für Klärungsarbeit, aber selbstverständlich würde man in der „philosophy of mind“ und angrenzenden Gebieten der Kognitionswissenschaft ebenso leicht fündig. Kaum jemand, der das besser wüsste als Peter Hacker; und so kommen durchaus auch Philosophen zu kritischen Ehren: John Searle etwa hat fast immer dann seinen Auftritt, wenn die bündige, idealtypische Formulierung einer sprachlichen Verzeichnung gefordert ist – und neben ihm bekommt auch Daniel C. Dennett als prominenter Stichwortgeber für die Neuro- und Kognitionswissenschaften einen eigenen Anhang, in dem seine Thesen zum Bewusstsein zerp?ückt werden.3)

Warum aber dann die Konzentration auf die Neurowissenschaften, auf Autoren wie Blakemore, Chalmers, die Churchlands, Crick, Damasio, Gazzaniga, Le Doux, Edelman und andere? Die einsichtige Begründung der beiden Autoren lautet, dass sich in diesem Feld mittlerweile eine veritable Mythologie des Gehirns herausgebildet hat, welche die tatsächlichen Ansprüche und Leistungen der Neurowissenschaften überblendet. Hinzuzufügen ist, dass diese Mythologie über populäre Darstellungen auch ein breites Publikum erreicht (was bei der „philosophy of mind“ nicht zu befürchten steht); wobei die Grenzen zwischen fachlichen und populären Darstellungen in diesem Gebiet ohnehin recht durchlässig sind.

Antonio Damasio ist ein Beispiel für diese schneidige Form der Popularisierung von Befunden und Spekulationen der Hirnforschung, die ihn mit „Descartes’ Irrtum“ auf die Bestsellerlisten brachte. Damasios Untersuchungen zum Zusammenhang von rationalem Entscheiden und konsequentem Verfolgen von Zielen auf der einen, der Fähigkeit zum Emp?nden von Emotionen auf der anderen Seite, haben ihm zu Recht Anerkennung eingetragen. Aber sein Anspruch reicht viel weiter. Er möchte eine neue Theorie der Emotionen geben. Sein neues Buch folgt den Grundideen dieser „somatic-mar-ker“-Theorie der Gefühle, die als vorzügliches Exempel einiger der von Bennett und Hacker konstatierten Verwirrungen gelten darf.4)

Tatsächlich wurde Damasios Bestimmung des Bewusstseins als strikt privates, auf die Perspektive der ersten Person beschränktes Phänomen schon in dem oben gegebenen „Kompositbild“ verwendet. Aber Damasio arbeitet an der heiklen Unterscheidung eines nur introspektiv zugänglichen Inneren und des Äußeren seiner körperlichen Darstellung noch entschieden weiter. Er trennt nämlich emotionales Verhalten von begleitendem Fühlen: Ersteres ist öffentlich und beobachtbar, Letzteres ist im verborgenen Innenraum angesiedelt. Das Verhalten, der körperliche Ausdruck – Damasio prägt in diesem Zusammenhang sogar das Verb „to emote“ –, soll dabei in doppeltem Sinn primär sein: Einerseits trete es evolutionsgeschichtlich zuerst auf, bevor eine Innenseite des Gefühls dazukäme; andererseits ist es das körperliche Reagieren, das allererst als Auslöser unserer Gefühle dient.

Der Weg geht also für Damasio von außen nach innen. Aber eine solche einfache Umkehrung des tatsächlich schiefen Bildes vom „bloßen“ körperlichen Ausdruck eines im strikt privaten Innenraum gehegten Gefühls führt nur in ein um so tieferes begrif?iches Schlamassel hinein. Gefühle werden nämlich bei Damasio zu einer Form innerer Wahrnehmung von veränderten Körperzuständen, welche ihrerseits durch bestimmte, von äußeren Reizen ausgelöste mentale Bilder verursacht sind oder zumindest von diesen Bildern begleitet werden – über letzteren Punkt ist sich Damasio offensichtlich nicht ganz im Klaren. Zuerst also ein Objekt („Sie“), dann mentale Bilder dieses Objekts („Wie hinreißend sie wieder …“) und körperliche Veränderungen (z. B. Herzklopfen), dann das Gefühl, das auf die Körperzustände und die Bilder antwortet. Aber weder lernen wir Gefühlsausdrücke allgemein durch Verweis auf körperliche Symptome, noch lassen sich für eine Vielzahl von Gefühlen solche Symptome sinnvoll angeben, noch trägt das der Begründetheit Rechnung, die wir bei vielen Gefühlen konstatieren oder fordern; und der Gegenstand, der meine Gefühle auslöst, ist nun einmal dieser Gegenstand, nicht ein inneres Körperbild. (Von den „mentalen Bildern“, die Damasio bemüht, einmal ganz abgesehen: Sie sind ebenso spekulativ wie seine evolutionsgeschichtlichen Überlegungen.)

Solche von Grund auf schiefen Konstruktionen stellen einen vor die Frage, wie sie eigentlich zustande kommen. Die klinischen Befunde, die Damasio skizziert, können nicht ernsthaft als empirische Nötigung gelten. Sie werden vielmehr bereits im Lichte von Überzeugungen gelesen, für die auch Vorkämpfer geltend gemacht werden. Im Gegensatz zu Spinoza, der von Damasio als Kontrast?gur zu Descartes beschworen wird, ist William James dabei ganz zu Recht sein Held. James hatte in seinen ein?ussreichen Principles of Psychology (1890) mit Nachdruck verfochten, „dass die körperlichen Veränderungen direkt auf die Wahrnehmung des auslösenden Objekts folgen und dass unser Fühlen dieser eintretenden Veränderungen die Emotion ist.“5) Auch der rhetorische Gestus von Damasio, das Hervorkehren der körperlichen Gestimmtheit »deep in the ?esh«, lässt das inspirierende Vorbild James erkennen.

Verständlich also, wenn Bennett und Hacker Neurowissenschaftlern empfehlen, eher Henry James als seinen Bruder zu lesen, wenn es um Gefühle geht, bzw. eben um Emotionen. Wobei auch diese terminologische Frage einen heiklen Punkt berührt, denn bei William James und seinen Nachfolgern ist deutlich zu sehen, wie ein reichhaltiges Vokabular von Gefühlen, Stimmungen, Regungen, Leidenschaften, Aufregungen, Trieben, Gelüsten, Neigungen … zusammenschnurrt auf die eine Grundvokabel „emotions“, für die als paradigmatische Erläuterungen gerne Phänomene wie etwa Hunger und sexueller Trieb herangezogen werden. Thomas Dixon hat diesem Prozess, in dem aus einem reichhaltigen, religiös konnotierten Vokabular die säkulare und „wissenschaftliche“ Kategorie der Emotionen wurde, eine interessante Studie gewidmet.6) Bei ihm kann man auch die kritischen Reaktionen der Zeitgenossen auf William James’ Principles nachlesen. Tatsächlich bekannte ihr Autor unter dem Eindruck dieser Kritiken rasch ein, dass er zu schnell generalisiert habe. Aber das tat der Karriere des Begriffs ›emotion‹ keinen Abbruch. Offensichtlich empfahl er sich der aufstrebenden Psychologie gerade durch seine Einfachheit, die so praktikabel von den älteren Distinktionen und den alltäglichen Redeweisen abstach.

Damasios Buch lädt zu Überlegungen über die Welle der popularisierenden Darstellungen von Neurowissenschaftlern ein. Schließlich kann kaum daran gezweifelt werden, dass seine verzeichnete Theorie der „somatischen Marker“ und die mit ihr einhergehende Verkürzung unseres reichhaltigen Vokabulars von Affekten, Gefühlen und Stimmungen auf eine Form des körperlichen Eingestimmtseins die Attraktion seiner Bücher nicht gerade mindert. Die Bestimmung der »positiven« Zustände, in denen die Lebensprozesse »optimal, frei ?ießend und leicht« sind, und „well beeing“ als Evolutionstufe – das hat schon was. Dem deutschen Verlag ?el dazu „Plädoyer für Ganzheitlichkeit“ ein und der Untertitel „Wie Gefühle unser Leben bestimmen“.

Nimmt man Theorien à la Damasio zum Vergleichsmaßstab, besticht der Hirnforscher Gerhard Roth in seinem neuen Buch fast durch Nüchternheit.7) Im Fall der von Roth behandelten Frage „Verstand oder Gefühle – auf was sollen wir hören?“ gilt das sogar ohne Einschränkung: Für die Einsichten, die dabei naturgemäß herauskommen, braucht es die Hirnforschung gewiss nicht, ebenso wenig wie für Überlegungen über „Letzte Dinge“ oder „Wissenschaft und Wahrheit“. In den Abschnitten über Freiheit und Bewusstsein ist Roth allerdings nicht so zurückhaltend. Hier bekommt man den ungebrochenen Hang des Autors zu spüren, aus der Hirnforschung philosophische Funken zu schlagen. Ohne metaphysischen frisson geht es bei ihm nicht ab. Das Gehirn wird zum natürlich-über-natürlichen Organ, das die Welt und uns konstruiert, und dies „führt zu der viel diskutierten Frage: Wie kommt die Welt nach draußen? Die Antwort lautet hierauf: Sie kommt nicht nach draußen, sie verlässt das Gehirn gar nicht.“ Auch so etwas kann passieren, wenn das Gehirn zum rätselhaften Scheinsubjekt promoviert wird, das konstruiert, entscheidet, prüft …

Bennett und Hacker stellen sich die Frage, wie es eigentlich zu diesem Scheinsubjekt kommt, das hinter den diagnostizierten Missverständnissen meist steckt: Überzeugend ihr Nachweis – geführt vor dem Hintergrund einer prägnanten Darstellung der historischen und begrif?ichen Wurzeln der Neurowissenschaft –, dass es letztlich durch eine einfache Ersetzung im dualistischen Schema à la Descartes zustande kommt. An die Stelle des Geistes trat das Gehirn. Womit der fatale Dualismus in anderer Gestalt, wenn auch materialisiert, weiterlebte. Mit anderen Worten: Es ist (ausgerechnet) der lange Schatten Descartes’, der Neurowissenschaftler oft zu Ausritten über die Grenzen des Sinns hinaus verführt.

Den besten Gebrauch von solchen Grenzübertritten macht wohl die eingangs erwähnte Dr. Palmquist, die ihre erotischen Attacken mit neurowissenschaftlichen Exkursen begleitet. Da es auf dem Feld der Erotik keineswegs um Klarheit geht, sind Einwände hier zurückzustellen. Schlimm genug, dass sie das Objekt ihrer Begierde nicht herumbekommt, das im letzten Moment durch die Skrupel des Ehemanns am Vollzug gehindert wird. Statt dem schönen Lauf der Natur nichts als Inhibition: Eine Neurowissenschaftlerin wie Dr. Palmquist wird man so nicht überzeugen.

1) Daniel C. Dennett: Freedom evolves. Penguin/Allen Lane: London 2003.

2) M. R. Bennett/P. M. S. Hacker: Philosophical Foundations of Neuroscience. Blackwell: Oxford 2003.

3) Zur Diskussion von Dennetts Überlegungen und methodischen Anregungen unter Neurowissenschaftlern, Entwicklungspsychologen, Verhaltensforschern und Evolutionstheoretikern neuerdings die Beiträge in: Andrew Brook/Don Ross (Eds.): Daniel Dennett. (Contemporary Philosophy in Focus), Cambridge University Press 2002.

4) Antonio Damasio: Looking for Spinoza. Joy, Sorrow, and the Feeling Brain. Harcourt: London 2003. Dt.: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen. List: München 2003.

5) Schon bei W. James verdankt sich diese Bestimmung einer Umkehrung: »Our natural way of thinking about these standard emotions is that the mental perception of some fact excites the mental affection called emotion, and that the latter state of mind gives rise to the bodily
expression. My thesis on the contrary is that bodily changes follow directly the PERCEPTION of the exciting fact, and that our feeling of the same changes as they occur IS the emotion.« W. James, Principles of Psychology (Cambridge 1981), II, 189.

6) Thomas Dixon: From Passions to Emotions. The Creation of a Secular Psychological Category. Cambridge University Press: Cambridge 2003.

7) Gerhard Roth: Aus Sicht des Gehirns.
Suhrkamp: Frankfurt am Main 2003.

 



zum Seitenanfang < zurück Seite drucken