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Gehirn - Geist / Artikel Übersicht / 62. S-Wir sind so frei
 

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Wir sind so frei
Müssen wir unser Menschenbild korrigieren?

 

GEOWISSEN 2005 Nr. 35 von Wolfgang Michal   

Hirnforscher behaupten, unsere Entscheidungen seien schon festgelegt, bevor wir sie treffen. Diese kühne These hat eine hitzige Debatte ausgelöst. Denn wenn der Mensch nur eine Marionette seiner Gefühle ist, wird jede Verantwortung bedeutungslos. Müssen wir unser Menschenbild korrigieren? Nein. Manche Hirnforscher haben nicht richtig nachgedacht.

Wenn Sie einem Neurobiologen begegnen, der allen Ernstes behauptet, es gebe keinen freien Willen, dann erzählen Sie ihm doch folgende Geschichte: Ein Mann geht in ein Restaurant. Der Kellner bringt ihm die Karte, und nach einem Meinungsaustausch über das Wetter fragt der Kellner: „Wünschen Sie Kalbfleisch oder Schweinefleisch?"

„Wissen Sie", sagt der Gast, „ich bin Neurobiologe. Ich glaube nicht an den freien Willen. Ich werde einfach warten und sehen, was ich bestelle."

Diese kleine Geschichte stammt von dem großen amerikanischen Sprachphilosophen John Searle. Sie macht auf ironische Weise darauf aufmerksam, dass auch derjenige, der die Möglichkeit des freien Willens in Abrede stellt, indem er sich weigert, eine Entscheidung zu treffen, seinen freien Willen ausübt - ob er will oder nicht.

Searles Geschichte verweist auf einen bizarren „Krieg", den Biologen und Philosophen seit einigen Jahren um Existenz oder Nicht-Existenz des freien Willens führen. Das Feuilleton der „FAZ" druckte eine 13-teilige Serie zum Thema „Hirnforschung und Willensfreiheit"; in Nürnberg provozierten die Veranstalter eines Symposiums ihre Zuhörer mit der Frage „Freier Wille - frommer Wunsch?"; und an der Frankfurter Universität stritten Experten über das Problem ,>Wird Ethik durch Hirnphysiologie überflüssig?"

Die Erbitterung und das Feuer, mit der die Debatte geführt wird, gehen über einen normalen Wissenschaftsdisput weit hinaus. Denn beim freien Willen handelt es sich nicht um eine Marginalie, sondern um den harten Kern menschlichen Selbstverständnisses. Der freie Wille ist die Grundlage der Aufklärung und Voraussetzung jeder Ethik. Ohne die Verantwortung des Einzelnen für seine Handlungen gäbe es weder Gut noch Böse, weder Schuld noch Einsicht. Wir wären Automaten, und jede Tat und jedes Verbrechen ließe sich damit rechtfertigen, dass man nicht anders konnte; dass man - wie ein Roboter - von Anfang an programmiert war. Das Gehirn habe die Handlung ausgelöst, bevor das Bewusstsein eine kritische Haltung dazu entwickeln konnte.

BEGONNEN HAT DER „KRIEG" um den freien Willen bereits in den 1980er und 1990er Jahren mit dem ungeahnten Aufschwung der Neurowissenschaften. Gestützt auf neue bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomographie und neuropsychologische Studien an Hirngeschädigten, förderten sie aufregende Neuigkeiten zutage, allen voran der US-Neurologe Antonio R. Damasio. Der amerikanische Präsident widmete dem Faszinosum Gehirn eine eigene „Dekade", und die Forschungsgelder flossen seither so breit und kräftig wie der Rhein nach der Schneeschmelze. Aber im Überschwang ihrer neu gewonnenen Bedeutung und im Aufmerksamkeitssog der Medien verlor die Neurobiologie die Bodenhaftung. Sie wollte zur Leitwissenschaft für die gesamte Gesellschaft aufsteigen; ja, sie wollte die wahre Geistes-Wissenschaft werden und in der Nachfolge von Kopernikus, Darwin und Freud das alte Welt- und Menschenbild umstürzen und auf eine neue Grundlage stellen.

Dieser Neuro-Revolution wurde anfangs kaum Widerstand entgegengesetzt. Doch nach einer Zeit der Verunsicherung und der Hilflosigkeit, in der die traditionellen Geisteswissenschaften ihrer Kapitulation gefährlich nahe schienen, bäumte sich die Philosophie, die den Anspruch hat, die Königsdisziplin der Wissenschaften zu sein, noch einmal auf und schoss aus allen Rohren zurück. Von Peter Bieri bis Jürgen Habermas konzentrierten sich die Philosophen darauf, die Annahmen der Neurowissenschaftler zu zerpflücken und als „Schwachsinn" oder „Kategorienfehler" zu entlarven.

Inzwischen haben die Philosophen ihr Pulver verschossen, eine gewaltige Rauchschwade hängt über dem Kampfplatz, die Kombattanten sind ermattet, das Publikum ist es ebenfalls. Jede Seite hat sich in ihre Stellungen zurückgezogen, pflegt ihre Verwundeten. Eine Gelegenheit, einen unvoreingenommenen Blick auf das Wesentliche zu werfen.

Was einem sofort auffällt, wenn man sich in die Auseinandersetzung um den freien Willen vertieft, ist die erstaunliche Tatsache, dass sich der Streit immer wieder auf die Interpretation eines einzigen Experiments bezieht, das vor mehr als 25 Jahren gemacht worden ist. Es stammt von dem amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet.

Libet, mittlerweile 89, legt Wert darauf, als „experimenteller" Neurophysiologe bezeichnet zu werden. Denn er entstammt der empirischen Schule Karl Poppers und John Eccles', in der gilt, dass nur ein sauber durchgeführtes und von jedermann nachprüfbares Experiment einen exakten Wissenschaftler auszeichnet. Nichts verachtet Libet mehr als Kollegen, die sich nicht der Mühe des Experiments unterziehen, sondern wild drauflos spekulieren und sich mit unbewiesenen Annahmen zu großen Wissenschaftlern aufplustern.

Wie sah Libets Experiment nun aus? Der Neurophysiologe setzte seine Versuchspersonen vor eine Scheibe, die - ähnlich dem Ziffernblatt einer Uhr - durch Striche in gleichmäßige Abschnitte unterteilt war. Auf den äußeren Rand der Scheibe ließ er mithilfe eines Kathodenstrahl-Oszilloskops einen roten Lichtfleck projizieren, der die Scheibe in genau 2,56 Sekunden einmal umrundete. Jede Strichmarkierung auf der Scheibe entsprach etwa 43 Millisekunden.

Anschließend wurden die Versuchspersonen, deren Gehirnströme mittels Elektroden auf der Kopfhaut gemessen wurden, gebeten, auf die Scheibe zu blicken und zu einem beliebigen Zeitpunkt einen freien Willensakt zu vollziehen, etwa den Finger zu heben oder das Handgelenk zu beugen. Immer wenn sie den Impuls zu dieser Bewegung verspürten, sollten sie sich die Position des Lichtflecks einprägen und später berichten. Da Libets Experiment die objektiven Messungen auf der Kopfhaut mit den subjektiven Wahrnehmungen seiner Versuchspersonen verknüpfte, eliminierte er durch weitere Kontrolltests jede nur denkbare Verzerrung der Ergebnisse. Seine Testfrage lautete: „Geht der bewusste Wille der Aktion des Gehirns voraus, oder folgt er ihr nach?"

DIE MESSERGEBNISSE waren verblüffend. Die Hirnströme verstärkten sich jeweils 350 bis 400 Millisekunden, bevor einer Versuchsperson der Wille, die Hand heben zu wollen, bewusst wurde. Diesen elektrischen Ausschlag im Messprotokoll bezeichnete Libet in Anlehnung an Hans Kornhuber als Bereitschaftspotenzial (BP). Er zog daraus die Schlussfolgerung: „Das Gehirn leitet zuerst den Willensprozess ein." Erst danach wird die Versuchsperson sich ihres Handlungsdranges bewusst. Libets Ergebnisse wurden von anderen Wissenschaftlern in den 1990er Jahren experimentell überprüft und bestätigt.

Festzuhalten ist: Die verstärkte neuronale Aktivität im Gehirn, die mit Elektroden gemessen wird, bezeichnet Libet neutral als »Aktion des Gehirns". Er überfrachtet seine Beobachtung nicht semantisch, wie dies manche seiner Interpreten tun, wenn sie behaupten, das im Gehirn aufgebaute BP sei identisch mit der folgenden Handlungsentscheidung. Libet sagt nur, es gibt eine Zunahme neuronaler Aktivität. Wofür diese steht - für einen aus dem Körper„aufsprudelnden" Impulswunsch oder eine autonome Vor-Entscheidung des Gehirns -, ist aus dem BP nicht zu ersehen.

Nun könnten Kritiker einwenden, das seien nur unbedeutende Feinheiten der Debatte. Im wesentlichen sei mit Libets Experiment bewiesen, dass jene Neurowissenschaftler Recht hätten, die den freien Willen als Illusion bezeichnen. Das ist richtig - allerdings nur unter der Voraussetzung, dass man den zweiten Teil des Libetschen Experiments unter den Teppich kehrt oder als vernachlässigbar abqualifiziert. Genau das haben die deutschen Neurobiologen Gerhard Roth und Wolf Singer getan, die Benjamin Libet sonst gern als Kronzeugen für ihre Thesen aufrufen.

Libets Neugier machte nach seinem ersten Experiment nämlich nicht Halt. Er fragte sich: „Wenn der Willensprozess unbewusst eingeleitet wird, gibt es dann überhaupt noch irgendeine Rolle für den bewussten Willen beim Vollzug einer Willenshandlung?" Und er stellte fest, dass der bewusste Wille etwa 150 Millisekunden vor der motorischen Handlung auftaucht. Genügend Zeit also, das Endergebnis des Willensprozesses zu beeinflussen.

UND GENAU HIER tritt das Libetsche „Veto" auf den Plan: Die Versuchspersonen sind in der Lage, die Ausführung des zunächst unbewusst eingeleiteten und dann zu Bewusstsein gekommenen Willens zu stoppen, „wenn die geplante Handlung als sozial inakzeptabel angesehen wird oder nicht im Einklang mit der eigenen Gesamtpersönlichkeit oder mit den eigenen Werten steht". Anders ausgedrückt: Ein Wunsch steigt auf, tritt ins Bewusstsein und wird abgewehrt. Diese Abwehrleistung, das Veto, ist nach Libet der Beweis für den freien Willen. Er „initiiert keinen Willensprozess; er kann jedoch das Resultat steuern, indem er den Willensprozess aktiv unterdrückt und die Handlung selbst abbricht oder indem er die Handlung ermöglicht (oder auslöst)". Nichts anderes besagt die kleine Geschichte von John Searle.

Die Veto-Rolle des freien Willens, so Libet, stimmt auch mit den verbreiteten religiösen und ethischen Mahnungen überein. „Die meisten der Zehn Gebote geben die Anweisung, dass man etwas nicht tun soll." Der freie Wille des Menschen sei die Fähigkeit, zu instinktiven Wünschen Nein zu sagen.

Libet verteidigt also den freien Willen ausdrücklich. Diejenigen, die ihn lauthals für eine Illusion erklären, schreibt er in seinem neuen Buch „Mind Time", hätten bislang keinen Entwurf eines Experiments vorgeschlagen, um ihre Theorie zu prüfen. Es sei deshalb „töricht, auf der Grundlage einer unbewiesenen Theorie des Determinismus unser Selbstverständnis aufzugeben, dass wir eine gewisse Handlungsfreiheit haben und keine vorherbestimmten Roboter sind".

Bleibt die Frage, warum die Wortführer der deutschen Neurobiologie, Gerhard Roth und Wolf Singer, trotz des von ihnen bislang schuldig gebliebenen Beweises derart zäh an ihrer These von der angeblichen Unfreiheit des Menschen festhalten. Haben sie Angst, die öffentliche Aufmerksamkeit und Forschungsgelder zu verlieren, wenn sie sich nicht mehr mit provokanten Behauptungen in den Vordergrund spielen können? Oder steht am Ende mehr auf dem Spiel als nur Standesdünkel und Anerkennungssucht einer jungen Wissenschaftsdisziplin?

Sollte die Neurobiologie die Meinung, der menschliche Wille sei ein entschlüsselbares Konzert physikalisch-chemischer Reaktionen, im Wissenschaftsdisput durchsetzen können, wäre diese Erkenntnis - wie beim Genomprojekt - Gold wert. Denn die Reduzierbarkeit unserer Gefühle und Entscheidungen auf lenkbare Stoffwechselprozesse würde einen Riesenmarkt an Anwendungen eröffnen. Gefühle und Entscheidungen könnten - durch gezielte Eingriffe - operativ oder pharmakologisch herbeigeführt oder ausgelöscht werden. In dem im Oktober 2004 mit großem Getöse vorgestellten „Manifest über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung" suggerieren die unterzeichnenden elf Neurowissenschaftler zwar, ihre Forschung komme vor allem der Behandlung von Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson und Depression zugute. Aber dem Missbrauch in Form von Gedächtnis- und Glückspillen, der Ausschaltung von Angstgefühlen oder der präventiven Stilllegung von Hirnregionen zur Verhinderung von Straftaten wären Tür und Tor geöffnet.

So weit muss es nicht kommen. Für eine Wiederbelebung des Konzepts vom freien Willen spricht, dass in den Reihen der deutschen Hirnforscher erste Anzeichen von Meuterei gegen die Bevormundung und Vereinnahmung durch Manifeste auszumachen sind. Prominente Neurobiologen wie Ernst Pöppel und Manfred Spitzer, die den freien Willen als unveräußerliches Kennzeichen des Menschseins betrachten, verwahren sich entschieden gegen das Imponiergehabe ihrer Fachkollegen. Es wird Zeit, dass Wissenschaftler, die ernst genommen werden wollen, ihre Behauptungen hieb- und stichfest beweisen - oder revidieren.

Wolfgang Michal, 51, lebt als freier Autor in der Nähe von Hamburg. Es war sein freier Wille, über den freien Willen zuschreiben.

 



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