Zur deutschen Sprache
Die Sprache ist ein Bild der Seele ...
www.sprache-werner.info
Zur deutschen Sprache
Die Sprache ist ein Bild der Seele ...
www.sprache-werner.info
Sprache / Deutsche Sprachwelt DSW / D.VW gesteht Kulturverlust ein - kurz / D.VW gesteht Kulturverlust ein
 

  < zurück erweiterte Suche Seite drucken
 

VW gesteht Kulturverlust ein
 Wortbeiträge auf Volkswagen-Hauptversammlungen
Ein Erfahrungsbericht von Geert Teunis

Deutsche Sprachwelt AUSGABE 26 Winter 2006/07, S. 3
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der DEUTSCHEN SPRACHWELT

 

Die Hauptversammlung ist das Beschlußorgan einer Aktiengesellschaft und dient der Unterrichtung der Aktionäre über die Entwicklung und die Pläne des Unternehmens. Ein wichtiger Punkt auf der Tagesordnung sind die Entlastungen des Aufsichtsrats und des Vorstands. Hat ein Sprachschützer auf solchen Veranstaltungen die Möglichkeit, etwas zu einem vermeintlich weniger wichtigen Thema wie „zu viel Englisch in der Unternehmenssprache“ zu sagen?

Er hat! Die einzige Voraussetzung ist, mindestens eine Aktie des Unternehmens zu besitzen; die Einladung zur Teilnahme an der Hauptversammlung „flattert“ dann einmal jährlich ins Haus. Der Eingeladene darf dann in der Versammlung zuhören, abstimmen und sich auch zu Wort melden.

Am 3. Mai dieses Jahres habe ich als Kleinaktionär wieder an der Hauptversammlung von der Volkswagen AG teilgenommen und zum Thema „Englisch bei Volkswagen“ gesprochen. Trotz des ansprechenden deutschen Werbespruchs „Aus Liebe zum Automobil“ werden – seit zehn Jahren immer häufiger – für die Produkte und ihre Beschreibungen übermäßig viele und für Kunden unverständliche englische Bezeichnungen verwendet.

Zu den VW-Hauptversammlungen kommen bis zu 5000 Besucher. Alle Reden werden auf Großbildschirme in mehrere Säle und in die Vorhallen übertragen und gleichzeitig ins Netz gestellt. Es ist klar, daß die große Zahl der unterschiedlichen Zuhörer – Klein- und Großaktionäre, Mitglieder des Aufsichtsrats (Kapitaleigner und Arbeitnehmer) und des Vorstands, Pressevertreter, Gäste im Saal und weltweit an den Bildschirmen – eine sorgfältige Vorbereitung des Manuskripts erfordert.

Akribische Vorbereitung

Das Sammeln von Material beginnt schon Monate vorher. Die Hauptquellen sind die Produktbeschreibungen, zum Beispiel für den Volkswagen-Passat, die Produktwerbung, die monatlich erscheinende Mitarbeiterzeitschrift „autogramm“, die Braunschweiger Zeitung und Besuche in der Wolfsburger „Autostadt“ und bei Volkswagenhändlern.

Die Rede vor großem Publikum darf nicht langweilig sein. Sie muß aber auch überzeugend darstellen, daß das Englische bei Volkswagen übermäßig zugenommen hat und daß Kunden bei vielen Beschreibungen an und in ihrem Fahrzeug nur noch „Bahnhof verstehen“. Dazu sind ein guter Einstieg, fundierte Aussagen und ein guter Schluß erforderlich. Ein roter Faden darf auch nicht fehlen. Ich habe in diesem Jahr „Kaufen und Fahren eines Volkswagen-Passats“ gewählt.

Sehr wichtig ist, daß der Wortbeitrag Fragen an den Vorstand enthält. Dieser ist nach deutschem Aktienrecht verpflichtet zu antworten. Und genau diese Antworten sind von großer Bedeutung. Das Manuskript kann fast immer noch verbessert werden, indem es noch einmal von anderen begutachtet wird. Als Berater für „richtiges Englisch“ steht mir Hartmut Heuermann, emeritierter Professor für Amerikanistik, zur Seite. Aber auch die kritischen Durchsichten einer Journalistin und meiner Ehefrau sind sehr hilfreich.

Warten auf den Auftritt

Der Tag der Hauptversammlung ist mit Spannung geladen. Nach der Personen- und Gepäckkontrolle werden die Versammlungsunterlagen einschließlich des Stimmkartenblocks ausgehändigt. Nun geht es hurtig zum Vortragssaal. Auf der Treppe werde ich von einem mir unbekannten Herrn angesprochen: „Guten Morgen Herr Dr. Teunis! Es freut mich, daß Sie auch wieder da sind. Sie werden doch sicher wieder sprechen!?“

Im Vortragssaal geht es schnurstracks zum Wortmeldetisch in der ersten Reihe. Das Vorlegen des Stimmkartenblocks ist der Nachweis für den Aktienbesitz. Anders als in den Vorjahren wird nicht gefragt, zu welchem Tagesordnungspunkt man zu sprechen gedenkt. Ich bitte darum, mir nach der Hauptversammlung das Redeprotokoll zuzuschicken. Dieses Protokoll enthält nicht nur das „gesprochene Wort“, sondern auch die Antworten des Vorstandes auf Fragen, die in der Hauptversammlung gestellt worden sind.

Nun beginnt eine Zeit der großen Ungewißheit. Kleinaktionäre wie ich müssen die Rechenschaftsberichte des Aufsichtsrats und des Vorstands und die ersten Reden der Großaktionäre abwarten, bis sie zu Wort kommen – oder auch nicht. Diese Entscheidung richtet sich nach der Zahl der Wortmeldungen und der Festlegung der Rednerreihenfolge durch den Versammlungsleiter. Dies ist der Vorsitzende des Aufsichtsrats, Ferdinand Piëch.

Die Zeit wird lang, auch wenn aufschlußreiche Berichte über die Unternehmenslage von Piëch, vom Vorstandsvorsitzenden Bernd Pischetsrieder und vom Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch vorgetragen werden. Auch durch das stille Wiederholen des Manuskripts vergeht die Zeit nicht schneller. Nach dem Auftreten der ersten zehn Redner des Großkapitals muß ich auf der Hut sein. Es kann ja sein, daß ich als nächster aufgefordert werde. Während ich auf den letzten Hauptversammlungen stundenlang warten mußte, sagt Piëch heute bereits nach dem elften Redner: „Ich bitte Herrn Dr. Teunis, Braunschweig, ans Pult.“

„Große Heiterkeit und Beifall“

Ich habe „Muffensausen“; vor mir haben fast ausschließlich Finanz- und Aktienfachleute gesprochen, die Milliardenbeträge oder Zigtausende Aktionäre vertreten, in brillantem Finanzdeutsch und mit entsprechend hochkarätigen Fragen. Ob alle Zuhörer die Ausführungen verstanden haben, ist zu bezweifeln. Während der Beiträge herrschte Ruhe im Saal, Beifall gibt es jeweils nur am Ende des Vortrags.

Und nun ich mit „Deutsch-Englisch bei Volkswagen“? Ich bin sehr unsicher, wie die Zuhörer meine Ausführungen aufnehmen werden. Meine Bedenken sind unbegründet: Den ersten Beifall gibt es bereits nach meinem zweiten Satz! Das macht Mut. Und so geht es weiter. „Große Heiterkeit und Beifall“, wie es später im Protokoll vermerkt sein wird, erntet mein Vorschlag, den Betriebsrat nun doch in „Work Council“ mit der Abkürzung WC umzubenennen.

Mit insgesamt 16 Beifallsbekundungen liege ich mit großem Abstand an der Spitze aller Redner. Zeitlebens habe ich noch nie so viel Beifall und zustimmende Pfiffe für eine so kurze Rede bekommen. Für mich war das eine bisher noch nicht erlebte Bezeugung, daß die Mitbürger „die Schnauze voll“ haben vom überflüssigen Englisch nicht nur bei Volkswagen.

Bevor ich zum Trinken, Suppe- und Würstchenessen eilen kann, spricht mich der Stenograph an, der den Ablauf der Hauptversammlung aufzeichnet. Er erbittet – wie in vergangenen Jahren – wieder mein Manuskript, da er „einiges Englische“ nicht richtig verstanden habe oder nicht weiß, wie es richtig geschrieben wird. In diesem Jahr habe ich eine Kopie für ihn vorbereitet.

VW-Chef: „Englisches im Deutschen ist Kulturverlust“

Der Vorstand beantwortet Fragen zusammenfassend nach zehn bis 15 Wortbeiträgen, da in der Regel gleichartige Fragen von verschiedenen Rednern gestellt werden. Es ist also wieder geduldiges Warten angesagt. Beim Essen und Trinken in der Vorhalle werde ich von vielen Zuhörern angesprochen: „Das haben Sie fabelhaft gemacht.“ – „Sie haben mir aus der Seele gesprochen.“ – „Endlich mal einer, der gegen das Denglische angeht.“ Das größte Lob wird mir auf der Herrentoilette zuteil. Ein Herr im dunklen Maßanzug, ehemaliger Vorstandsvorsitzender eines Industrieunternehmens in der Region Braunschweig, spricht mich an: „Ihr Beitrag hat mir gut gefallen.“

Nach etwa drei Stunden geht Pischetsrieder in einem ersten „Antwortenblock“ auf meine Fragen ein. Zunächst dankt er für den unterhaltsamen Beitrag. Seine Aussage „wenn das Englische vom Kunden nicht verstanden wird, solle er in der Betriebsanleitung nachlesen“, ist natürlich unbefriedigend. Zu meinen Beispielen („MUTE“, „DEST“, „NAV“, „MAP“, „ON/OFF|DUAL“, „ENGINE|START/STOP“ oder „PASSENGER AIR BAG OFF”) meint er, daß „manche Abkürzungen international genormt seien“.

Immerhin sagt er, „daß die allzu intensive Verwendung der englischen Sprache im Deutschen nicht nur im Automobilbereich ein gewisser Kulturverlust ist.“ Dies ist eine allgemeine, wichtige Aussage, aber natürlich noch keine Aufforderung an die Mitarbeiter, das Englische bei Volkswagen zu vermeiden oder auf ein Normalmaß zurückzuschrauben.

Volltreffer mit der Braunschweiger Zeitung

Beifall und Lachen der Hauptversammlung vergehen schnell. Nun ist es wichtig, „Informationsvervielfacher“ einzubeziehen. Denn erst viele Bündnispartner garantieren den Erfolg. Ich versuche es über die Presse und schicke mein Vortragsmanuskript zunächst an die Redaktion der Braunschweiger Zeitung. Sie veröffentlicht einen Artikel mit dem Titel „Design auf Denglisch – Was ein Sprachschützer der VW-Führung vorhielt“ im Kulturteil. Es gibt Leserbriefe und viele Anrufe. Zustimmung erhalte ich auch von vielen Mitgliedern des Vereins Deutsche Sprache (VDS), die das Manuskript über einen internen Verteiler erhalten haben.

Das Redeprotokoll mit einem offiziellen Anschreiben von Volkswagen erhalte ich erst im Juli. Dieses Dokument verteile ich in meinem Umfeld. Auch die Braunschweiger Zeitung erhält eine Kopie. Chefredakteur Paul-Josef Raue schreibt: „Über Ihr VW-Protokoll habe ich mich sehr gefreut. Wir machen was daraus!“ Eine Weile passiert jedoch gar nichts.

Anfang Oktober erscheint dann eine Samstagsausgabe der Braunschweiger Zeitung mit dem Aufmacher „Deutsch als Fremdsprache bei Volkswagen“ auf der Titelseite. Auflage der Zeitung: 210.000! Auf der dritten Seite stehen die beiden Artikel „Das ist nicht kundenfreundlich“ und „Leicht verständliche Wort-Kreationen“. Der Leitartikel „Deutsch ist schön“ auf der vierten Seite enthält zehn „Bemerkungen über unsere deutsche Sprache“. Im Kulturteil wird in einem Beitrag „Sex ist gut für uns, Fast Food nicht“ die Aktion „Lebendiges Deutsch“ der „Stiftung Deutsche Sprache“ vorgestellt. Und im Lokalteil macht eine Glosse unter „Hallo Braunschweig“ auf die „Bastian-Sick-Schau“ in der Stadt aufmerksam. Diese Artikel sind eine Riesenüberraschung und unterstützen meine weiteren geplanten Volkswagen-Aktivitäten.

In der Braunschweiger Zeitung werden über eine Woche lang Leserbriefe mit durchweg positiven Stellungnahmen veröffentlicht. „Warum lassen wir uns veräppeln?“ wird gefragt, und aus Volkswagen möge bei dem vielen Englisch doch „People-car“ sowie aus Wolfsburg „Wolfs-Castle“ werden. Im Rahmen der „Denglisch-Welle“ gerät auch der Braunschweiger Oberbürgermeister ins Kreuzfeuer der Kritik, weil er sich für eine „Bank mit Retail-Geschäft“ stark macht. Das große Leserinteresse an Denglisch setzt sich fort bei einer Diskussion mit einer Leserumfrage zu dem Begriff „Factory-Outlet“.

Der provozierende Titel „Deutsch als Fremdsprache bei Volkswagen“ macht auch vor den Toren von VW nicht Halt. Er löst auf allen Hierarchieebenen des Unternehmens Diskussionen aus. „Der Teunis hat ja völlig recht“, ist eine häufig zu hörende Meinung. Andere fragen: „In wie viele Sprachen sollen wir denn alles übersetzen?“ Neben Sprachkultur wird auch Wirtschaftlichkeit erörtert. Ein VW-Experte sagt: „Eine klare Unternehmenssprache für die interne und externe Kommunikation spart Kosten.“

Geert Teunis war jahrelanger VW-Mitarbeiter in der Informationstechnik. Auszüge seiner Rede vor der Aktionärsversammlung finden Sie auf der folgenden Seite.

Kostenloses Probeexemplar der Zeitschrift

zum Buchdienst der Deutschen Sprachwelt

 



zum Seitenanfang < zurück Seite drucken