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Das Problem der Willensfreiheit

 

Information Philosophie 5/2004, von Gerhard Roth    

Gerhard Roth ist seit 1976 Professor für Verhaltensphysiologie und seit 1989 Direktor am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Seit 1997 ist er Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs.

Die empirischen Befunde
Die Frage, was man unter Willensfreiheit zu verstehen hat, ob und in welchem Maße es sie gibt und wie sie sich zum Determinismus-Problem und zur Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun verhält, ist in der abendländischen Geistesgeschichte sehr verschieden beantwortet worden. Ich beziehe mich im Folgenden auf die „starke“ Annahme der Existenz von Willensfreiheit („Libertarianismus“ genannt), nämlich auf die Annahme der freien Entscheidungsmöglichkeit zwischen Alternativen, wie sie neben vielen philosophischen Ansätzen sowohl der Alltagspsychologie als auch dem kontinentaleuropäischen Strafrecht zugrunde liegen. Ein solcher Standpunkt ist „inkompatibilistisch“, d. h. er sieht einen fundamentalen Gegensatz zwischen Willensfreiheit und deterministisch ablaufenden Naturprozessen.

Ob und inwieweit ein „kompatibilistischer“ Begriff der Willensfreiheit, der keinen Gegensatz zwischen Willensfreiheit und dem strafrechtlichen Schuldbegriff einerseits und einem Determinismus andererseits sieht und in Deutschland die Philosophen P. Bieri und M. Pauen vertreten wird, mit den hier vorgetragenen empirischen Befunden verträglich ist, soll hier nicht diskutiert werden, sondern verdient eine gesonderte eingehende Behandlung.

Das Ausgangsproblem
Wir haben das Gefühl bzw. die Überzeugung, dass wir bei einer bestimmten Klasse von Handlungen, die man Willenshandlungen oder Willkürhandlungen (englisch voluntary actions) nennt, bei unserem Wollen frei sind. Dieses Gefühl bzw. diese Überzeugung ist im wesentlichen durch vier Inhalte bestimmt (vgl. Heckhausen, 1987; Walter, 1998):

•Wir sind Quelle unseres Willens und Verursacher unserer Handlungen.

•Unser Wille bzw. Willensakt geht unseren Handlungen voraus und verursacht unsere Handlung direkt und auf eine (im naturwissenschaftlichen Sinne) nicht-kausale Weise.

•Wir könnten auch anders handeln bzw. hätten im Rückblick auch anders handeln können, wenn wir nur wollten bzw. gewollt hätten.

•Wir fühlen uns für Willenshandlungen persönlich verantwortlich.

Bei der willentlichen Verursachung von Handlungen handelt es sich nach klassischer Anschauung nicht um das sonst in der Natur herrschende Prinzip der kausalen Verursachung, wonach es in der Natur Wechselwirkungen gibt, die (zumindest im makrophysikalischen Bereich) einen lückenlosen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang bilden. Bei der willentlichen oder mentalen Verursachung scheint dies anders zu sein: Ich fühle mich in meinen Entscheidungen zwar von vielerlei äußeren Vorgängen und inneren Motiven beeinflusst, aber diese Faktoren wirken nicht zwingend auf mich ein. Es handelt sich, wie es schon bei Kant heißt, um Gründe für ein bestimmtes Verhalten, nicht aber um Ursachen. Sind die Wünsche, Absichten und Pläne gut begründet und zu einem Willensentschluss gereift, so erlebe ich, dass dieser Willensentschluss die intendierte Handlung auslöst und vorantreibt.

Hieraus resultiert die in der Philosophie verbreitete Überzeugung, dass es sich bei der willentlichen Steuerung um eine Kausalität besonderer Art, mentale Kausalität oder mentale Verursachung genannt, und damit um ein im naturwissenschaftlichem Sinne nichtkausales Geschehen handelt. Entsprechend tritt der Glaube an eine Willensfreiheit meist zusammen mit einem dualistischen Weltbild auf, in dem geistige Zustände und materielle Zustände (einschließlich der Hirnzustände) wesensmäßig verschieden sind. Der Willensentschluss als ein rein mentaler Vorgang ist entsprechend dieser Anschauung nicht selbst kausal bestimmt, wirkt auf das körperliche Geschehen auf eine (naturwissenschaftlich gesehen) nichtkausale Weise ein und setzt damit zugleich eine kausale Wirkungskette in Gang.

Dieses Konzept der Willensfreiheit birgt folgende Probleme in sich.

(1) Aus dem Gefühl, wir seien bei Willkürhandlungen willensfrei, folgt nicht zwingend, dass Willensfreiheit tatsächlich existiert. Man kann Versuchspersonen unterschwellig (z. B. über so genannte maskierte Reize), durch experimentelle Tricks, Hypnose oder Hirnstimulation zu Handlungen veranlassen, von denen sie später behaupten, sie hätten sie gewollt (Penfield und Rasmussen, 1950; Wegner, 2002; Roth, 2003).

(2) Willensfreiheit wird mit „einen Willen haben“ verwechselt. Kein Zweifel besteht, dass es einen Willen als Erlebniszustand gibt. Der Wille ist ein energetisierender, das Spektrum möglicher Handlungen einschränkender und fokussierender psychischer Zustand (Heckhausen, 1987). Die Frage, ob dieser Wille frei sei, wird dabei nicht thematisiert, da wir die externe und interne Bedingtheit unseres Willens nicht empfinden. Auch unter normalen Umständen erleben wir nicht, wie Wünsche und Absichten aus dem Unbewussten (dem limbischen System) in die assoziative Großhirnrinde (vornehmlich das Stirnhirn) aufsteigen, denn erst dort werden sie bewusst. Sie werden dadurch automatisch dem Bewusstsein als Quelle zugeschrieben; wir erfahren sie entsprechend als Gründe und Motive, nicht aber als kausal wirkende Faktoren.

(3) Ein Willensakt führt keineswegs notwendig zu einer Handlung, d.h. ich kann etwas stark wollen, ohne dass ich es dann auch tue. Umgekehrt gehen den automatisierten Handlungsabläufen, die unser tägliches Leben charakterisieren, keine expliziten Willensakte voraus. Dennoch schreiben wir sie uns zu und lassen uns für ihre Folgen verantwortlich machen (z.B. Handlungen, die wir ausführten, während wir „geistig abwesend“ waren). Es gibt entsprechend Willensakte ohne nachfolgende Willenshandlung und Willenshandlungen ohne vorausgehende Willensakte. Zwischen einem Willensakt und einer Willenshandlung besteht also kein zwingender Zusammenhang, erst recht nicht zwischen einer Intention und einer Willenshandlung.

(4) Es wird von philosophischer Seite immer wieder darüber spekuliert, ob die Willensfreiheit auf quantenphysikalischen Prozessen beruhen könnte, bei denen Einzelereignisse nicht mit beliebiger Sicherheit, sondern nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden kann. Es wurden verschiedene Vorschläge gemacht, wie quantenphysikalische Geschehnisse auf neuronale Ereignisse einwirken könnten, die Willensakten zugrunde liegen (synaptische Wahrscheinlichkeitsfelder, Mikrotubuli, elektrische Synapsen usw.; vgl. Eccles, 1994; Penrose, 1995). Es gibt aber bisher keinen überzeugenden Hinweis dafür, dass es im menschlichen Gehirn zumindest auf der für die Verhaltenssteuerung relevanten Ebene nicht kausal-determiniert zuginge. Diejenigen neuronalen Ereignisse, die von Quanteneffekten beeinflusst sein könnten (z.B. die Ausschüttung eines so genannten Transmittervesikels an der Synapse), laufen um viele Größenordnungen unterhalb der verhaltensrelevanten Ebene ab. Aber selbst wenn quantenphysikalische Phänomene oder „neuronales Rauschen“ im Gehirn doch eine gewisse oder gar bedeutende Rolle spielen sollten, so würde dies nur bedeuten, dass im Gehirn der schlichte Zufall (mit)regiert und nicht der freie Wille.

Experimentalpsychologische Befunde
Der amerikanische Neurobiologie Benjamin Libet konnte Anfang der achtziger Jahre (Libet et al. 1983) nachweisen, dass das einer Körperbewegung spezifisch vorausgehende so genannte Bereitschaftspotential zeitlich dem Willensentschluss stets vorausgeht und weder mit ihm zeitlich zusammenfällt noch ihm folgt (was nach dem Dualismus zu erwarten wäre). Kürzlich wurden diese Versuche von den beiden Psychologen P. Haggard und M. Eimer mit einigen wichtigen Verbesserungen der experimentellen Anordnungen wiederholt (Haggard und Eimer, 1999). Vor allem registrierten Haggard und Eimer neben dem symmetrischen auch das spezifischere lateralisierte Bereitschaftspotential, auch führten sie neben der Aufgabe der Versuchspersonen, zu einem frei gewählten Zeitpunkt eine vorgegebene Taste zu drücken (fixed choice), eine „freie Wahl“ (free choice) ein, in der sich die Versuchspersonen entscheiden konnten, die linke oder rechte Taste zu drücken. Insgesamt bestätigten sie voll die Befunde von Libet und Mitarbeitern.
Aufgrund dieser Befunde sieht es so aus, dass unter den gegebenen und zugegebenermaßen laborhaften Bedingungen der subjektiv empfundene Willensakt oder -ruck dem Beginn des Bereitschaftspotentials nachfolgt, und zwar in einem relativ festen zeitlichen Abstand, und ihm nicht voraus geht. Dies würde die Vermutung bestärken, dass der Willensakt nicht die Ursache, sondern vielmehr eine direkte oder indirekte Folge des Bereitschaftspotentials und der mit ihm zusammenhängenden Hirnprozesse ist. Diese Experimente und ihre Deutung sind auch von experimentalpsychologischer Seite in neuester Zeit wiederholt kritisiert worden; immerhin kann aber als gesichert angesehen werden, dass es zwischen dem subjektiv empfundenen Willensakt und der ausgeführten Willenshandlung keine Kausalbeziehung gibt.

Einsichten der Neurobiologie in die Steuerung von Willkürhandlungen
Nach gegenwärtiger neurowissenschaftlicher Vorstellung ist für den Beginn und die Kontrolle von Willkürhandlungen das Zusammenwirken corticaler (d. h. in der Großhirnrinde angesiedelter) und subcorticaler (d. h. außerhalb der Großhirnrinde lokalisierter) motorischer Zentren notwendig (dazu Roth, 2003). Auf corticaler Ebene sind dies der motorische Cortex, der für die detaillierte Muskelansteuerung zuständig ist, sowie der laterale prämotorische und der mediale supplementärmotorische Cortex, die mit dem globaleren Handlungsablauf zu tun haben. Der supplementärmotorische Cortex (SMA, prae-SMA) muss zudem aktiv sein, damit das Gefühl auftritt, dass man eine bestimmte Bewegung auch gewollt hat.

Frontalcortex und parietaler Cortex als die mit bewusster Handlungsplanung und –vorbereitung befassten Rindenareale sind nicht (auch nicht zusammen) in der Lage, den motorischen Cortex so zu aktivieren, dass dieser über die Pyramidenbahn und Schaltstellen im verlängerten Mark und Rückenmark eine bestimmte Bewegung auslöst. Sie können also nicht als bewusst agierende Instanzen unsere Handlungen allein bestimmen. Vielmehr müssen die außerhalb der Großhirnrinde angesiedelten und völlig unbewusst agierenden Basalganglien (Corpus striatum, Globus pallidus, Substantia nigra u.a.) an diesem Aktivierungsprozess mitwirken. Es wird angenommen, dass in den Basalganglien alle bisher erfolgreich durchgeführten Handlungsweisen entsprechend der Art ihrer Ausführung gespeichert sind und die Basalganglien eine Art „Handlungsgedächtnis“ darstellen. Bahnen vom Cortex zu diesen Zentren und über den Thalamus zurück bilden die so genannte dorsale Schleife (vgl. Roth, 2003)

Der gesamte Informationsfluss durch die Basalganglien im Zusammenhang mit Handlungsplanung und Handlungssteuerung wird durch ein komplexes Wechselspiel zwischen erregendem und hemmendem Input bestimmt, in das sich der neuronale Überträgerstoff Dopamin als Modulator einschaltet. Eine erhöhte Dopaminausschüttung durch Neurone der Substantia nigra (pars compacta) in das Striatum resultiert letztendlich in einer Enthemmung der thalamischen Kerne, die zur Großhirnrinde zurückwirken, und damit zu einer Verstärkung motorischer Aktivität in der Großhirnrinde.

Dieser Prozess der kontrollierten Dopaminausschüttung steht seinerseits unter Kontrolle der so genannten ventralen oder limbischen Schleife: Über diese Schleife wirken die unbewusst agierenden limbischen Zentren auf unser Bewusstsein ein, und zwar in Form des Auftauchens von positiven und negativen Gefühlen, Absichten und der Stärke des Wunsches, diese zu verwirklichen. Wichtig hierbei sind vor allem Amygdala und Hippocampus. Die Amygdala ist das wichtigste Zentrum für das Entstehen und die Kontrolle von Gefühlen und für emotionale Konditionierung. Sie registriert, in welcher Weise bestimmte Handlungen und Ereignisse positive oder negative Konsequenzen für den Organismus nach sich ziehen, und speichert dies ab. Beim Wiedererleben der Ereignisse werden diese Bewertungen aufgerufen, und wir erleben dies über Bahnen, die die Amygdala zur Großhirnrinde schickt, als positive oder negative Gefühle, d.h. als Antrieb oder Vermeidung. Der Hippocampus ist der Organisator des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses und registriert den jeweiligen Kontext der Ereignisse. Amygdala und Hippocampus arbeiten arbeitsteilig, indem die Amygdala die eigentliche emotionale Bewertungsfunktion ausführt und der Hippocampus Details des Geschehens und deren räumlichen und zeitlichen Kontext hinzu gibt.

Diese Verkettung von Amygdala, Hippocampus (sowie anderer hier nicht genannter limbischer Zentren), ventraler und dorsaler Schleife hat zur Folge, dass beim Entstehen von Wünschen und Absichten das unbewusst arbeitende emotionale Erfahrungsgedächtnis das erste und das letzte Wort hat. Das erste Wort beim Entstehen unserer Wünsche und Absichten, das letzte bei der Entscheidung, ob das, was gewünscht wurde, jetzt und hier und so und nicht anders getan werden soll. Diese Letztentscheidung fällt 1-2 Sekunden, bevor wir diese Entscheidung bewusst wahrnehmen und den Willen haben, die Handlung auszuführen.

Das oben genannte Bereitschaftspotential baut sich über dem motorischen Cortex (im weiteren Sinne) dann auf, wenn dort die Aktivierung aus dem präfrontalen und dem parietalen Cortex – also der bewusste Handlungswille – mit der Aktivierung aus den Basalganglien und dem Thalamus – also der unbewusste, limbische Handlungswille – zusammentrifft und in ihrem Inhalt übereinstimmt. Fehlt die Aktivierung aus den Basalganglien, wie dies bei Parkinson-Patienten der Fall ist, so wird kein genügend starkes Bereitschaftspotential aufgebaut, und die corticalen Motorzentren werden nicht hinreichend aktiviert, um die Handlung auszulösen. Hingegen können bei stark automatisierten Handlungen die Basalganglien allein die entsprechenden Bewegungen auslösen; wir erleben sie dann mit begleitendem Bewusstsein oder führen sie ganz unbemerkt aus.

Nach heutiger Erkenntnis sind sowohl die bewussten, über den präfrontalen und den parietalen sowie den motorischen Cortex ablaufenden Prozesse als auch die in den Basalganglien und im limbischen System stattfindenden unbewussten Prozesse deterministische Vorgänge. Da hierbei Millionen wenn nicht gar Milliarden von Nervenzellen und mindestens tausendmal so viele Synapsen beteiligt sind, ist die Wirkung stochastischer Ereignisse auf der Ebene quantenhafter Transmitterausschüttung wahrscheinlich vernachlässigbar. Zudem gilt, dass jede bewusste Handlungsplanung und jeder Handlungswille an eindeutige neuronale Prozesse gebunden ist.
Das Phänomen der Selbstzuschreibung

Wir haben insbesondere bei den so genannten Planhandlungen das unabweisliche Gefühl, wir seien diejenigen, die unsere Handlungen kontrollieren. Dieses Phänomen erklärt sich vor allem aus Mechanismen, die aus der Assoziationspsychologie bekannt sind (vgl. Wegner, 2002). Wir erleben vielfach täglich, dass wir Wünsche haben, die zu Absichten, Plänen und Willenszuständen werden und schließlich in die Tat umgesetzt werden. Diese regelmäßige Abfolge verleitet uns mehr oder wenig zwanghaft dazu, hieraus – wie bei praktisch allen regelhaften Abfolgen – eine Kausalbeziehung zu konstruieren. Der Wunsch erscheint danach als Ursache des Willens, der Wille als Ursache der Handlung. Hier erleben wir nicht die vielen unbewusst ablaufenden Zwischenschritte bei der Umsetzung des Wunsches in eine Absicht und dann in einen Willenszustand, die „Letztentscheidung“ der Basalganglien, und nicht die Abläufe zwischen Willensruck und der komplizierten Ansteuerung der vielen Muskeln, die an einer Körperbewegung beteiligt sind. Was wir bei der willentlichen Verwirklichung eines Wunsches erleben, ist ein bewusstes, verkürztes Abbild oder Modell der vielfältigen neurobiologischen und muskulären Geschehnisse.

Auch scheint die Illusion der Autorschaft für unsere Handlungen eine Folge der Zuschreibung durch die soziale Umgebung zu sein. Bevor das Kleinkind ein stabiles Ich entwickelt hat, erfährt es, wie die Mutter ihm bestimmte Handlungen zuschreibt („das hast du aber gut gemacht!“), und es ist wahrscheinlich, dass sich das kindliche Ich unter anderem durch diese Attribution als Handlungssubjekt konstituiert. Selbstzuschreibung und das Gefühl der Autorschaft spielen eine wichtige Rolle in der sozialen Kommunikation und beim Aufbau des Selbst, denn Handlungen verlangen sozial akzeptable Erklärungen, und diese werden mit den Mitteln der Alltagspsychologie als Motive, Wünsche, Absichten und Wille geliefert.

Die Selbstzuschreibung hat auch komplizierte neurobiologische Grundlagen (Jeanneod, 1997, 2002; Blakemore et al., 2002). Man nimmt an, dass im motorischen Cortex zusammen mit der Erstellung von „Kommandos“ an die Muskeln, die für die Ausführung von Willkürhandlungen notwendig sind, ein Modell derjenigen Rückmeldungen von der Haut, den Muskeln, Sehnen und Gelenken entworfen wird, die zu erwarten sind, wenn die Bewegung so wie geplant ausgeführt wird (Jeannerod, 1997, 2002; Blakemore et al., 2002). Liegt eine mehr oder weniger große Übereinstimmung vor, so heißt dies: Ich – der Cortex – war es, der dies veranlasst hat. Gibt es jedoch stärkere, nicht kompensierbare Abweichungen oder Störungen aufgrund von Defekten im Gehirn oder im Bewegungsapparat, so tritt bei Versuchspersonen das Gefühl der Fremdheit der Bewegung auf bis hin zur Leugnung der Autorschaft für die Bewegung.

Der strafrechtliche Schuldbegriff
Neben dem Gedanken der Abschreckung und der Stärkung des Rechtsbewusstseins (General- und Spezialprävention) ist für das deutsche Strafrecht die Verwerflichkeit der Tat zentral. Der Täter musste wissen oder hätte wissen müssen, dass er Unrecht begeht. Hiermit bringt er die moralische Ordnung aus dem Gleichgewicht. Hierin ist seine moralische Schuld begründet. Entsprechend heißt es im bekannten Strafrechts-Lehrbuch von Wessels und Beulke, Allgemeiner Teil (Wessels und Beulke, 2002): „In Übereinstimmung mit dem Menschenbild des Grundgesetzes beruht das deutsche Strafrecht auf dem Schuld- und Verantwortungsprinzip:

Strafe setzt Schuld voraus ...
Grundlage des Schuld- und Verantwortungsprinzips ist die Fähigkeit des Menschen, sich frei und richtig zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden. Nur wenn diese Entscheidungsfreiheit existiert, hat es Sinn, einen Schuldvorwurf gegen den Täter zu erheben“ (Wessels/Beulke, a.a.O. S. 125).

Weiter heißt es: „Der Gegenstand des Schuldvorwurfs ist die in der rechtswidrigen Tat zum Ausdruck kommende fehlerhafte Einstellung des Täters zu den Verhaltensanforderungen der Rechtsordnung. Die innere Berechtigung des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie Selbstbestimmung angelegt und bei Anspannung seines ‚Rechtsgewissens’ im Stande ist, das rechtlich Verbotene zu vermeiden, sobald er die geistig-sittliche Reife erlangt hat und solange er nicht wegen schwerer seelischer Störungen iSd § 20 [StGB] unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“ (a.a.O. S. 127).

Ein solcher „moralischen“ Schuldbegriff ist auf einem starken Begriff von Willensfreiheit aufgebaut. Dies steht nicht nur den oben angeführten Erkenntnissen entgegen, sondern auch die kriminalpsychologische Erkenntnis, dass sich zum Beispiel bei allen eingehend untersuchten Serien-Gewalttätern deutliche Zeichen schwerer Persönlichkeits- und Ich-Störungen feststellen lassen. Diese lassen sich drei Symptombereichen zuordnen, nämlich (1) mangelnde Impulskontrolle, (2) mangelnde Empathie und (3) mangelnde Affektregulation. Viele Serien-Gewalttäter berichten, dass sie sich allgemein von der Umwelt und speziell von bestimmten Personen bedroht fühlten und sich deshalb „wehren“ mussten. Der Gewaltakt wirkt als Angst-Befreiung.

Bei den meisten Gewalttätern finden sich weit vor Beginn von „Heim-Karrieren“ Anzeichen für gewalttätiges Verhalten. Dieses Verhalten lässt sich entweder auf frühe hirnorganische Störungen, z.B. Fehlentwicklungen oder Verletzungen im so genannten orbitofrontalen Cortex, auf vor- oder nachgeburtliche Störungen im „zerebralen Beruhigungssystem“ (Serotonin, Dopamin, NPY, Oxytocin) oder auf körperliche oder psychische Traumatisierung in früher Jugend zurückführen. Viele Gewalttäter waren in früher Jugend selbst Opfer von Gewalt und schwerer Vernachlässigung oder mussten in ihrer unmittelbaren Umgebung häufig Akte von Gewalt erleben.
Aus dieser Sicht ergibt sich folgendes „Schuld-Paradoxon“: Je schwerer die Straftat und die „moralische“ Schuld, desto deutlicher erkennbar ist die psychische Zwangssituation der Täter. Diese wird häufig in früher Kindheit erkennbar, bevor der Täter im rechtlichen Sinne schuldfähig sein kann.

Fazit: Sofern sich die Erkenntnisse der Hirnforschung und der Persönlichkeitspsychologie weiter erhärten, muss im Strafrecht das Prinzip der moralischen Schuld aufgegeben werden. Es rückt damit der Gedanke der Normenverletzung in den Vordergrund, bei der die Gesellschaft das Recht hat, sie zu ahnden. Erziehung, Therapie und Schutzes der Gesellschaft vor unerziehbaren bzw. nicht therapierbaren Straftätern treten dann anstelle des strafrechtlichen Sühnegedankens.

Schlussfolgerung
Das Gefühl, bei der Willensbildung und der Handlungsentscheidung frei zu sein (d.h. nicht aus Ursachen, sondern aus Gründen zu handeln und im Prinzip auch anders entscheiden zu können), ist eine Illusion, wenngleich eine für unser komplexes Handeln notwendige Illusion. Menschen fühlen sich – wie David Hume es formulierte – dann frei, wenn sie tun können, was sie wollen; die Bedingtheit ihres Willens wird dabei gar nicht thematisiert.

Bewusste Prozesse spielen eine wichtige Rolle beim Abwägen von Alternativen und deren Konsequenzen, aber sie entscheiden nichts. Die Ausformung des Willens und die Handlungsentscheidung werden im wesentlichen durch unbewusste Prozesse bestimmt, die unter der Kontrolle des limbischen Erfahrungsgedächtnisses stehen. Hierdurch wird garantiert, dass alles, was wir tun, im Lichte vergangener (auch der einmal bewussten und nunmehr unbewussten) Erfahrung geschieht. Allerdings entwickelt sich das limbische Erfahrungsgedächtnis vom Mutterleib an in höchst individueller, zuweilen idiosynkratischer Weise. Dies erklärt, warum das eigene Handeln höchst rational, anderen jedoch oft nicht nachvollziehbar erscheint.
Manchen Entscheidungen gehen lange (und oft qualvolle) bewusste Erwägungsprozesse voraus. Diese sind aber ebenso wenig frei wie schnelle Entscheidungen. Welche Argumente und Gegenargumente uns in welchem Augenblick in den Sinn kommen, kann nicht von uns willentlich kontrolliert werden. Wir können nur durch Erziehung oder Versuch und Irrtum lernen, dass es gut ist, bei wichtigen Entscheidungen sorgfältig abzuwägen. Hierin liegt die Chance der Erziehung zur Handlungsautonomie, nämlich zur Fähigkeit des Gesamtorganismus, aus innerer Erfahrung zu entscheiden und zu handeln.

Links:

Ingo-Wolf Kittel: "Determiniert zu hirnigen Konstruktionen"

Die Geist-Gehirn-Debatte in der Übersicht

Philosophie und die Erforschung des Geistes: Hirnforscher Roth kritisiert die Philosophen (2000)

Spohn-Replik zu Gerhard Roth (2000=

Peter Heintel und Gerhard Roth: Kann die Gehirnforschung den Geist erklären? (2002)

Diskussion: Können Neurowissenschaftler und Philosophen zusammenarbeiten? Ansgar Beckermann, Gerhard Roth und Wolfgang Prinz (2000)

Hans Joachim Heyer: Kritik zu Roths Artikel "Das Problem der Willensfreiheit"

 



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