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Gehirn - Geist / Artikel Singer / Die Welt im
 

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Welt im Kopf
 Wolf Singer im Gespräch


Wolf Singer, seit 1981 Direktor des Max-Planck-Instituts für Gehirnforschung in Frankfurt, hat sich einer der schwierigsten Fragen der Neurobiologie, gewidmet, der Frage, wie entsteht im Gehirns Bewußtsein. Man kann auch fragen, wie entsteht aus Materie Geist? In einem Seminar über neurochirurgische Eingriffe am Menschen wurde sein Interesse an der Hirnforschunggeweckt. Er wollte wissen, ob man ein neuronales Substrat für die Schizophrenie finden könne.

Wie Florian Hildebrandt in einem Gespräch mit Singer im Bayerischen Rundfunk im September 2002 eingangs feststellte, wage sich die Naturwissenschaft bei der Frage nach dem Bewußtsein an ein Thema, das die Philosophie Jahrtausende lang beschäftigt habe, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Singer definierte aus seinen Untersuchungen ein Bild des Menschen von der Welt, das wiederum erhebliche Rückwirkungen auf das Selbstbild des Menschen haben könnte. Bei den jahrelangen Arbeiten zur Funktionsweise des Sehsinns ist er den Zusammenhängen nachgegangen, die dazu beitragen, daß aus physikalischen Außenreizen ein kohärentes Bild von der Welt entsteht.

Das Abenteuer Wissenschaft, so sagte Singer, finde für ihm im Labor statt. Das sei aber nicht der Ort für spektakuläre Entdeckungen. In beharrlicher Kreativität taste er sich mit unzähligen Experimenten Schritt für Schritt in dem komplizierten Terrain voran. Tierversuche seien dabei unumgänglich, so vielmals angefeindete Untersuchungen an Meerkatzenäffchen, aber auch detaillierte Sehübungen mit Neugeborenen, Kleinkindern und Erwachsenen. Singer habe nachgewiesen, daß viele weit auseinander liegende Gehirnareale mit von der Partie und in komplizierten Verarbeitungsabläufen miteinander verschaltet seien.

Das große Geheimnis, wie aus die physiologischen Grundlagen (Biochemie und Bioelektrizität) Phantasie, Gedankenwelten entstehen, das hat den Mediziner Singer dazu gebracht hat, bei der Hirnforschung zu bleiben, und gereizt, zu untersuchen, nämlich die Phänomene, die wir aus der Erste-Personperspektive kennen, unsere subjektiven Erfahrungen und die Inhalte dieser Erfahrungen, die mentale geistige Qualität unserer Selbsterfahrung. Wie könne dies aus materiellen Prozessen hervorgehen, die, wie jeder andere natürliche Vorgang aus der Dritte-Person-Perspektive beschrieben werden könne, also mit Begriffen aus den Naturwissenschaften. Niemand werde sich darüber streiten, daß das Gehirn ein Organ sei wie jedes andere auch, der Physiologie unterliege und damit allen Naturgesetzen. Niemand werde auch bestreiten, daß das Gehirn das Organ sei, welches Verhalten hervorbringe. Solange es sich um tierisches Verhalten handle, hätten wir damit überhaupt kein Problem. Niemand werde auch bestreiten, daß es subjektive Erfahrungen gebe, die Realitätscharakter hätten, die Verhalten bestimmen, die uns ausmachen. Und wenige würden heute bestreiten, daß das eine aus dem anderen hervorgehe. Aber niemand könne sich wirklich vorstellen, wie das möglich sein soll, daß die subjektiven Erfahrungen auf materieller Basis beruhen sollten, wo er sich doch frei, als autonomer Agent fühlte und er damit auch wisse, die Prozesse in seinem Hirn deterministische Prozesse seien, die den Naturgesetzen gehorchen müßten. Er habe das damals wahrscheinlich intuitiv gespürt, daß da ein großes Rätsel sei, um das man sich Jahre lang kümmern könne, ohne daß es einem langweilig werde. Heute rückblickend meine er, es wäre wohl diese Faszination des Übergangs vom Materiellen zum Physischen.

Wie entsteht ein Bild im Gehirn?
Die zentrale Frage, wie im Gehirn ein Bild entstehe, könne, so Singer, nicht ohne weiteres beantwortet werden. „Wenn man als Elektrophysiologe sich vom Auge ins Gehirn hineinarbeitet und dann in verschiedenen Stationen Aktivitäten mißt, dann findet man auf verschiedenen Ebenen unterschiedliche Verarbeitungsstrategien für die Signale, die von der Netzhaut angeliefert werden. Man findet kaum Nervenzellen, die auf individuelle Objekte, Personen und Gesichter reagieren, sondern immer nur irgendwelche Prototypen, und dann findet man irgend wann Nervenzellen, deren Aktivität besser mit den Aktionen korreliert, die der Organismus erbringt, als mit dem, was er wahrnimmt, und befindet sich dann mit einem Mal auf der efferenten Seite, also auf der Ausgangsseite, und hat nirgendwo auf diesem Weg den Ort entdeckt, an dem die Bilder sein konnten, geschweige denn den Ort, wo derjenige sitzen könnte, der sich diese Bilder anschaut. Das ist eine faszinierende Erkenntnis, daß das Gehirn ein extrem verteilt organisiertes System ist, wir sagen dazu ein extrem distributiv organisiertes System, in dem Sinnessignale an vielen Orten der Hirnrinde gleichzeitig nach verschiedenen Aspekten abgetastet, geordnet und dann auf nach wie vor geheimnisvolle Weise so kombiniert werden, daß das ganze offenbar für das sich selbst beobachtende Gehirn als interpretierbare Einheit erscheint. Und aus diesen vielen parallelen Verarbeitungszentren gibt es viele parallele Ströme hinaus in die Motorik. Es erfolgt also nirgends eine Bündelung auf ein Konvergenszentrum, in dem alle Informationen an einem Ort verfügbar wären. Das wäre der Ort, an dem die Entscheidungen fallen, der Ort, an dem das Ich sitzt und "ich" sagt, das wäre der Ort, an dem die Handlungen geplant werden, und natürlich auch der Ort, an dem die Sinnessignale zu einem kohärenten Bild der Welt verbunden werden. Diesen Ort gibt es nicht im Gehirn. Und dennoch erfahren wir unser Bewußtsein als eine Einheit, erfahren wir die Welt als kohärent und sind in der Lage, zu entscheiden und wohl koordinierte Bewegungsabläufe zu programmieren. Man bezeichnet das Problem als Bindungsproblem, die Frage, wie die verschiedenen gleichzeitig ablaufenden Rechenoperationen und deren Ergebnisse so zusammengebunden werden, daß ein interpretierbares Ganzes entsteht.

Das Bindungsproblem
Der augenblickliche Sinneseindruck sei, wie Hildebrandt bemerkte, abhängig davon, wie er mit Vorerfahrungen verschaltet werde. Denn nur so könne ja auch etwas erkannt werden, z. B. ein Stuhl, der von einem hypermodernen Designer entworfen sei. Man erkenne ihn auch unter schwierigsten perspektivischen und optischen Verhältnissen als Stuhl.

Das führe, so Singer, zu der Frage, wie Kategorien gebildet würden, z. B. die eines Stuhls. Auch das sei eine im Detail nicht geklärte Frage. Hinweise legten nahe, daß das möglich sei, weil die Speicherung im Gehirn assoziativ erfolge. Wir hätten also keine Adressenspeicher, sondern im Gehirn werde anders gespeichert. Man könne sich also vorstellen, daß in so einem Nervennetz sehr viele verschiedene Modelle von Stühlen im Laufe des Lebens zur Speicherung gekommen seien, so daß, wenn das Netz gelernt habe und etwas stuhlähnliches auf der Netzhaut abgebildet werde, das Erregungsmuster, das von diesem Stuhl komme, in Resonanz gerät mit den Resonanzeigenschaften dieses Netzwerkes. In dem würden dann all die Neuronen, die so verkoppelt sind, wie das erforderlich ist, um einen Stuhl zu repräsentieren, die würden dann bevorzugt gemeinsam aktiv werden. Wenn nun nur Teile eines Stuhls abgebildet würden, dann könne das trotzdem ausreichen, um dieses Netzwerk in Resonanz zu bringen. Das ergänze sich dann gewissermaßen selbst. Und auf diese Weise könnten sich dann sehr viele dieser Modelle z. B. mit dem Begriff "Stuhl" im Sprachzentrum verbinden, so daß immer, wenn eines dieser Modelle in Resonanz gerate, dieses zur Resonanz der Repräsentation "Stuhl" im Sprachzentrum führe. Auf diese Weise könne man sich vorstellen, wie Kategorien entstehen, wie symbolische Beschreibungen entstehen, wie auch Unvollständiges komplettiert werden kann, was bei der Wahrnehmung enorm wichtig sei. Wir sähen ja selten ideale Prototypen, „sondern wir sehen meistens Deformiertes und sind dann in der Lage durch Rekonstruktion, durch Vergleichen mit dem bereits Gewußten die richtigen Zuordnungen zu treffen.“

Die hirnphysiologischen Methoden
Die einzelnen Nervenzellen bilden relevanten Schaltelemente im Gehirn. Alle Aktivitäten des Gehirns bestehen aus den Aktivitäten von Tausenden von Nervenzellen. Um die Sprache oder den Code zu entschlüsseln, nach der das Gehirn arbeitet, sei es daher notwendig, die Aktivität der einzelnen Nervenzellen zu untersuchen und sie mit einer zeitlichen Auflösung messen, die den Hirnprozessen entspricht, d. h. also im Bereich von tausendstel Sekunden. Singer: „Wenn eine Nervenzelle einer anderen etwa mitzuteilen hat, dann tut sie das, indem sie elektrische Potentiale erzeugt. Deren Dauer ist ca. eine Millisekunde. Man bezeichnet diesen Vorgang mit "Feuern" oder mit "Entladen". Nervenzellen können ihre Botschaften im wesentlich eigentlich nur dadurch mitteilen, daß sie die Rate dieser Entladungen verändern, also schneller oder langsamer feuern. Das ist zunächst der einfachste Code. Es gibt da noch kompliziertere. Um diese Signale zu erfassen, muß man also mit Mikroelektroden, ganz feinen Drahtkonstrukten, ganz feinen Glaskapillaren in Hirngewebe eindringen, muß diese Elektroden in der Nähe der gesuchten Nervenzellen plazieren und dann mit erheblichem elektronischen Aufwand diese Entladungen sichtbar, hörbar, speicherbar machen. Bislang gibt es keine andere Möglichkeit, um die Aktivität einzelner Nervenzellen zu untersuchen. Es ist aus diesem Grund nach wie vor notwendig, invasiv vorzugehen. Das erfordert den Tierversuch. Es gibt in der modernen Hirnforschung immer noch keine Alternative zur Implantation von Elektroden, was für die Tiere nicht sonderlich belastend ist, weil das Gehirn nicht schmerzempfindlich ist. Man kann die Elektroden also wie Herzschrittmacher implantieren. Sie bleiben dann über Monate, manchmal Jahre im Gehirn liegen, analog den Verfahren, nach denen man auch bei Menschen Elektroden implantiert. Das wird aus therapeutischen und diagnostischen Gründen z. Zt. sehr viel macht. Es geht also schmerzlos, und man kann dann auch beim wachen, sich verhaltenden Tier problemlos Messungen vornehmen.“ Singer räumt ein, „vor 15 Jahren glaubten wir noch, es sei ein kurzer Sprung, bis wir verstanden haben, wie das Gehirn kodiert. Das sei alles sehr viel komplizierter geworden, als wir es uns vorgestellt hätten.“

Auf die Frage, was können wir von der Welt mit dem Organ, das wir dafür hätten, überhaupt sehen, meinte Singer, „Wir nehmen ja nur einen winzigen Ausschnitt aus dem physikalischen Kontinuum der Welt wahr. Das gilt nicht nur für den Sehsinn, sondern für allen anderen Sinnessysteme auch. Und dann unterteilen wir den noch sehr willkürlich in bestimmte Modalitäten. Wir nehmen elektromagnetische Schwingungen im Infrarotbereich oder noch langwelligeren Bereich als Wärme war. Und ein paar Wellenlängen kürzer erscheint es uns plötzlich als rotes Licht und dann sehen wir über einen engen Bandbereich Wellenlängen als Licht, weil wir die entsprechenden Rezeptoren im Auge haben. Die kurzwelligeren Bereiche sehen wir nicht. Bienen sehen noch ein bißchen ins Ultraviolette rein. Wir sind da schon blind. Wir ziehen also aus dem Kontinuum des elektromagnetischen Wellenspektrums ein ganz enges Band heraus, und dieses erscheint uns als das Licht, das die Welt beleuchtet, die uns als kohärent und komplett erscheint. Ist es natürlich nicht. Es ist ein kleiner Ausschnitt, den wir wahrnehmen. Wahrscheinlich geschah es nicht zufällig, daß wir gerade in diesem Bereich Rezeptoren entwickelt haben, weil das vermutlich der Wellenlängenbereich ist, der die größten Kontraste zwischen Objekten schafft, die zu erkennen für uns wichtig ist.“

Das Bewußtsein
Bei seinen Arbeiten über das Gehirn, so Singer, seien die Hirnforscher gezwungen worden, sich mit dem Phänomen "Bewußtsein" auseinander zu setzen, eigentlich von außen. „Wir wurden immer wieder gefragt, wie verhält es sich denn damit? Und dann haben wir anfangen müssen, darüber nachzudenken, wie das, was wir tun und das, was wir an Erkenntnissen zutage fördern, sich mit dieser sehr komplizierten philosophischen Frage in Verbindung bringen läßt. Es lassen sich ja verschiedene Ebenen des Bewußtseins angehen und untersuchen. Einmal kann man Bewußtsein operationalisieren und sagen, das ist alles das, was nicht unbewußt, nicht Koma, was nicht Tiefschlaf ist. Sehr viel schwieriger wird es, wann man sich als Neurobiologe mit der Frage auseinandersetzt, wie es zur der höchsten Kongregation von Bewußtsein kommt, also zum Selbstmodel, zum Sich-Erfahren als autonomen, frei entscheidenden Agenten, der dann offensichtlich auch mit Verantwortung betraut werden muß und der für sich in Anspruch nimmt, eine mentale Entität zu sein, also einer anderen ontogenetischen Kategorie anzugehören, als diese materiellen Prozesse im Gehirn. Denn wir haben ja die sichere Empfindung, daß wir, unser Geist, unser mentales Ich den neuronalen Prozessen vorausgehen, daß wir entscheiden und dann die Neurone ausführen, was wir entschieden haben, und daß wir die Sinnessysteme benutzen, um uns über die Welt zu informieren, daß wir aber als mentales Agens die Interpretatoren sind, die dann die Schlüsse daraus ziehen und dann nach erfolgter Entscheidung wieder auf die Neuronen Einfluß nehmen, um irgend welche Aktionen durchzuführen. Das ist eine sehr problematische Sicht, die aus dieser Innenperspektive entsteht, die mit neurologischen Realitäten nicht vereinbart ist. Das ist unser großes Problem. Ich habe deshalb angefangen, darüber nachzudenken, wie man diese beiden Beschreibungssysteme, die nun wirklich Widersprüchliches über den Menschen und sein Bewußtsein behaupten, miteinander versöhnt werden könnten. Dazu kann man natürlich nur spekulieren derzeit.

Eingefallen ist mir zu diesem Problem, daß man vermutlich, um die Entstehung dieses mentalen Ich, der Erfahrung, ein solches zu haben, und die Entstehung dieser Erfahrung zu erklären, sich nicht mehr auf die Betrachtung eines einzelnen Gehirns beschränken darf, sondern den Dialog zwischen Gehirnen einbeziehen muß. Ich kann mich in Ihrer Kognition wiederfinden, wenn Sie mir mitteilen, was Sie über mich zu wissen glauben. Dadurch entsteht ein Abgrenzungsprozeß. Jeder Dialog, der Partner definiert, definiert auch gleichzeitig Grenzen. Ich vermute, daß sich diese Selbsterfahrung, ein Individuum zu sein, abgegrenzt zu sein, aus dieser dialogischen Abbildung entwickelt hat. Und das fängt früh an in der Geschichte. Denn die Einjährigen, die Zweijährigen werden von ihren Eltern immer wieder darauf verwiesen, autonome Agenten zu sein, indem sie zu hören bekommen, "tue das nicht, sonst passiert das, tue das, sonst werde ich ...". Auf diese Weise macht jeder Mensch, der in unserer Gesellschaft aufwächst, die Erfahrung, ich bin offenbar ein autonomer Agent, der Dinge tun kann und andere lassen, denn sonst wären ja die Handlungsanweisungen und Begründungen, die ich ständig zu hören bekomme, völlig sinnlos.

Ich habe dann noch eine zweite Argumentationslinie aufgemacht um zu erklären, warum uns diese Erfahrung, autonom und frei zu sein, so absolut erscheint, so transzendental, so unverursacht, so immer schon dagewesen. Bis zum zweiten/dritten Lebensjahr verfügen die kleinen Kinder noch nicht über die Fähigkeit, ihr episodisches Gedächtnis aufzubauen. Das hat damit zu tun, daß bestimmte Gehirnstrukturen noch nicht ausgereift sind, die Frontalhirnstrukturen. Die lernen zwar enorm viel über die Welt. Aber sie lernen die Inhalte nicht in ihrer Verursachung. Die lernen den Kontext dazu nicht. Wenn ein kleines Kind lernt, daß es dieses nicht tun soll und man es am nächsten Tag fragt, warum es das nicht getan hat, dann wird es eine Erklärung abgeben der Art, ja weil man das nicht tut, oder weil das gefährlich ist. Und woher weißt du das? Ja das ist doch so. Die Inhalte wurden zwar gelernt, aber es wurde vergessen, in welchem Kontext sich der Lernprozeß ereignet hat. Ich vermute, daß die Installation der Erfahrung, ein autonomer Agent zu sein, der frei ist, etwa zur selben Zeit passiert, wie das langsame Ausreifen des episodischen Gedächtnisses. Deshalb ist die kontextuelle Einbettung dieser Erfahrung nicht möglich. Deshalb wird von uns dieses Konzept als so absolut und transzendental erfahren.

Aber aus der Sicht der Hirnforschung ist das natürlich eine Illusion, ein Konstrukt, eine Zuschreibung. Nach allem, was wir wissen, vermuten müssen, ist das, was unser Gehirn jeweils als Nächstes tut, die Folge des je vorangegangenen Zustandes. Aber das bedeutet, daß, wenn wir etwas tun, wir das immer tun, weil dem Kausalketten vorangegangen sind und wir uns erst, wenn wir es tun, gewahr werden, daß wir es tun, und dann auch nur die Motive bewußt reflektieren können, die zu bewußten Entscheidungen geführt haben. Und dann machen wir eine Art posteriori Erklärung dafür, warum wir etwas getan haben und was anderes nicht, was manchmal zutreffen mag, wenn die Handlungsmotive vorwiegend bewußt waren. Aber wenn die vorwiegend unbewußt waren, dann kann es auch sein, daß die Erklärung für eine Handlung völlig unzutreffend war. Man kann das auch sehr schön beweisen.“

Das Leib-Seele-Problem
Auf die alte Dualität zwischen Leib und Seele angesprochen, ein Problem, worüber die Philosophen Jahrtausende lang gearbeitet haben und offenbar nicht gelöst haben, eher die Naturwissenschaftler, meinte Singer, er glaube nicht, daß die Hirnforscher es schon gelöst hätten. Es werde vielleicht so gehen, wie schon oft in der Erkenntnisgeschichte. Die Primärerfahrung sage den Forschern, daß die Sonne im Osten auf und im Westen untergehe. Alle lebensweltliche Rituale orientierten sich immer noch daran. Gleichzeitig wüßten sie aber, daß es anders sei, daß sich nämlich die Erde drehe und um die Sonne kreise. Sie hätten sich an den Widerspruch gewöhnt, Er tue ihnen nicht mehr weh. Im Falle des Gehirns würden sie es wohl ähnlich handhaben. Er sehe z. Zt. noch keine plausiblen Brückentheorien, die seine Icherfahrung direkt abzubilden erlauben auf neuronale Prozesse. Er wisse aber auf der anderen Seite, daß sie durch neuronale Prozesse determiniert sein müßten. Wir würden uns wohl daran gewöhnen, daß aus diesem komplexen System Gehirn eine Qualität hervorgehe, die sich im Verhalten äußere, und, wenn es dann zum sozialen Verhalten komme, und zu diesen wechselseitigen Abbildungsprozessen, auch zu sozialen Realitäten, die mit Sicherheit nicht mehr in der Sprache von Neuronen und chemischen Überträgersubstanzen gefaßt werden könnten, die alle real seien, also alle zu unserer Wirklichkeit gehörten, die allerdings zu ihrer Beschreibung unterschiedliche Darstellungsformen bedürften. Das habe man aber immer schon so gehabt.

Er (Singer) beschreibe Verhalten in anderen Termen als er neuronale Prozesse beschriebe, die Verhalten zugrunde lägen. Soweit sie das im Bereich des tierischen Verhaltens und des tierischen Organismus täten, mache das keine Schwierigkeiten. Problematisch werde es in dem Moment, in dem sie das auf sich selbst anwendeten und ihre subjektive Icherfahrung, die Phänomene aus der Erste-Person-Perspektive Mitbestandteil der Explananda würden, dann täte es ihnen weh und mache ihnen Schwierigkeiten. Aber sie würden sich daran gewöhnen. Er stelle fest, daß ihn bei Vorträgen, bei denen er dieses Problem thematisiere, die Jungen gelegentlich ihn hinterher fragten, was sei eigentlich das Problem? Das mache doch nichts. Das Ich sei doch schon lange dekonstruiert. Und daß das Gehirn ein distributives System sei, das Phänomene hervorbringe, die qualitativ anders seien als die Prozesse, die dem zugrunde lägen, das kennen sie doch aus der Kompleximitatstheorie schon seit langem. Das Problem käme natürlich in die Welt durch diese parallelen Beschreibungssysteme und die Akzentuierung der Dichotomie durch Descartes und dem Idealismus. Er glaube, wir würden uns einfach an das Problem gewöhnen.

Die „übergeordnete Instanz“
Zum Buch "Das Ich und sein Gehirn" des englischen Neurologen John Eccles und von Karl Popper, worin behauptet werde, das Gehirn werde von einer übergeordneten Instanz gesteuert, meinte Singer, das sei der Königsweg der Auswege. Man ziehe sich auf eine dualistische Position zurück, die intuitiv der Selbsterfahrung durchaus plausibel erscheine, daß einerseits ein mentales Agens sei und andererseits die Materie. Da lägen jedoch eine Reihe unangenehmer Probleme. Einmal sei sie nicht falsifizierbar. Für jemand, der mit naturwissenschaftlichen Ansätzen umzugehen gewohnt sei, sei das sehr unbefriedigend. Man müsse daran glauben. Dann habe man das Problem, die Verursachung zu erklären. Wie solle denn dieses Immaterielle Etwas mit den neuronalen Prozessen im Gehirn zur Wechselwirkung kommen, das die Entscheidungen, das das Immaterielle fällt, von den Neuronen dann auch so exekutiert würden, wie das mentale Agens es gern hätte?

Wenn mit den materiellen Prozessen im Gehirn Wechselwirkungen stattfinden sollen, dann müsse dabei Energie ausgetauscht werden. Anders könne man mit Materie nicht wechselwirken. Wenn also dieses immaterielle Agens über Energie verfüge, die es zum Austausch benutzen könne, dann könne es nicht immateriell sein. So bekomme man hier ein logisches Problem. Das Gleiche gelte auf der sensorischen Seite. Wenn ich die Augen schließe, dann wisse mein Ich nicht mehr, ob mein Gegenüber jetzt noch hier sitze oder vielleicht heimlich aufgestanden sei. Ich müsse also offenbar meine Netzhaut, meine Rezeptoren, mein Gehirn benutzen, als mentales Agens, um zu wissen, was draußen der Fall ist. Also müsse irgendwie ein Übersetzungsvorgang stattfinden zwischen den neuronalen Prozessen im Gehirn und diesem mentalen Betrachter. Auch da sei völlig ungeklärt, wie das gehen solle. Singer meint also, daß es eine bequeme Position sei, auf die man sich zurückziehen könne, die uns aber ständig in Erklärungsnotstände bringe. Er müsse aber dazu einschränkend sagen, wir wüßten mit großer Wahrscheinlichkeit nicht alles, was im Prinzip wißbar wäre. Die Wissenschaftsgeschichte sei reich an Beispielen, daß etwas entdeckt werde, das Widersprüche auflöst, für die man vorher keine Deutung hatte. Man solle nichtreproduzierbare Phänomene existieren lassen wie z. B. die parapsychologischen Phänomene. Die entzögen sich eo ipso dem Zugriff der naturwissenschaftlichen Deutung. Sie würden damit Gegenstand von Überzeugungen und Glauben. Wir könnten dann dazu nichts sagen. Es könne daher auch sein, daß irgendwas entdeckt werde, was im Rahmen naturwissenschaftlicher Beschreibung darstellbar ist und manches von dem, was uns jetzt so rätselhaft erscheine, erklärbar machen werde. Singer favorisiert einen naturalistischen Standpunkt und meint, daß es keine zu großen intellektuellen Probleme aufwerfe, sich vorzustellen, daß aus einem komplexen System wie dem Gehirn Qualitäten hervorgehen, die neue Eigenschaften haben, z. B. mentale Eigenschaften, soziale Realitäten, kulturelle Inhalte, ästhetische Werte, die nicht wären, wenn unsere Gehirne nicht wären. Die seien aber nicht identisch mit unseren Neuronen.

Um diese neuen Qualitäten zu erklären, erläutert Singer: „Stellen sie sich doch vor, die zunehmende Differenzierung der Gehirne, die schon bei Schimpansen ganz erstaunlich ist, wenn diese sozialen Interaktionen komplexer werden, dann entstehen durch diese kommunikativen Akte neue Phänomene. Wenn Sie jetzt die Sprache dazu bekommen, also die Fähigkeit, Phänomene zu kategorisieren, symbolisch zu codieren und syntaktisch zu verknüpfen, dann können Sie damit Realitäten beschreiben, die erfahrbar sind, die auch wirklich den Status von Realitäten haben, weil sie verhaltensrelevant sind und die in die Welt gekommen sind, dadurch, daß Wesen mit so differenzierten Gehirnen angefangen haben, mit einander wechselzuwirken. Ich kann mir das gut vorstellen. Und dann haben wir dann halt Wörter dafür gefunden, für Liebe, Eifersucht, Treue, Geld, Werte, Moral, moralische Inhalte. Wir haben uns Konzepte entwickelt wie Schuld und Sühne. Und nun stellen wir fest, daß diese Beschreibungssysteme nicht immer zu den gleichen Aussagen kommen wie die Beschreibungssysteme, die wir uns verschafft haben, seit wir naturwissenschaftlich vorgehen, was ja auch ein singuläres Phänomen ist auf dieser Welt. Es ist ja nicht überall passiert. Es haben ja nicht alle Kulturen das Problem.

Wir haben uns das Problem geschaffen in unserer europäischen abendländischen Geschichte, weil wir angefangen haben, in der Aufklärung zunächst mit dem gutgemeinten Versuch, die Naturwissenschaften dazu zu benutzen, Gott zu beweisen, und zu sehen, daß sich die Welt plötzlich anders darstellt, als sie unserer Primarerfahrung zugänglich ist. Das verdanken wir den naturwissenschaftlichen Akribien. Dann ist ein zweites Beschreibungssystem von Phänomenen entstanden, denen wir auch trauen müssen, vor allem dadurch, daß sie funktionelle Beweise aushalten. Wenn wir Maschinen bauen, könnten die funktionieren, die zu Aussagen kommen, die nicht mehr so gut zu dem passen, was wir aus der Primärerfahrung und aus unserer 1. Person-Perspektive kennen. Das nimmt nicht wunder. Wir müssen halt nur redlich versuchen, aus dem jeweiligen Wissensstand immer wieder zu kalibrieren. Dazu dachte ich bis jetzt immer, es sei die Philosophie zuständig, die das Wißbare zu wissen trachtet, und das dann so ordnet, daß es zu möglichst widerspruchsfreien Aussagen kommen kann.“

„Datengestützte Erfindungen“
Jedes Erinnern versetze, so Singer, die Gedächtnisspur in einen labilen Zustand; fast so, als habe man den Inhalt gerade das erste Mal gelernt. Dann bedürfe es eines erneuten Konsolidierungsprozesses, also eines richtigen neuen Einschreibeprozesses, um diese reaktivierte Erinnerungsspur wieder festzusetzen. Und diese Neueinschreibung erfolge jeweils in dem aktuellen Kontext. Das bedeute, „jedes Erinnern bettet die Erinnerung in neue Kontexte ein. Damit verändert sie sich in ihren Schattierungen, in ihren Wertungen, in ihren Bedeutungen. Das ist wahrscheinlich notwendig, um biographische Kohärenz zu erzeugen. Es ist ein updating-Prozeß, bei dem sich das, was erinnert wird, immer wieder leicht anpaßt und verändert. Datengestützt deshalb, weil die ursprüngliche Erinnerungsspur da ist und beide Erinnerungen zum Wahrnehmen von ganz bestimmten Inhalten führt. Dieser Akt des erneuten Wahrnehmens ist wie jeder Wahrnehmungsakt ein konstruktiver Akt, der eine Menge von Inferenzen mit einbezieht. Wir wissen vieles nicht mehr, aber wir finden dann die Brücken dazu, damit es wieder kohärent aussieht. Erinnern ist also von Wahrnehmen sehr verschieden, hat die gleichen konstruktivistischen Aspekte und ist zusätzlich durch die Notwendigkeit, immer wieder neu einzubetten und neu zu konsolidieren, abhängig von Einfärbungsprozessen, die bei jedem Erinnerungsakt mitlaufen.

Die Ansicht, Vergangenheit wäre demnach eine Gegenwart, die neu konstruiert wird, um ein aktuelles Ichbild zu stützen, stimme. Die Biographie werde kohärent gemacht, um das Ich jeweils wieder in diesen narrativen Strom einzubetten. Das Ich erfahre sich jedesmal neu. Wenn das nicht der Fall wäre, hätten wir keine Zeitwahrnehmung. Wenn wir uns nicht immer als etwas anders erführen, aber trotzdem ein konstantes Modell aufrechterhielten, dann würden wir uns nicht als kontinuierliche Wesen erfahren können.



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