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Leser/Hörer-Briefe / LB zu Gehirn u. Geist / LB-SZ-freier Wille
 

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Die Illusion vom freien Willen

 Leserbrief an die SZ zum Artikel "Das Leben denkt über sich selbst nach" vom 15.6.2001

 

Veröffentlicht in der SZ mit Kürzungen unter dem Titel "Wir sind Affen ohne freien Willen"

Innerhalb kurzer Zeit wurde in der SZ mehrmals das Tabuthema "unfreier Wille" erörtert ("Die Illusion vom freien Willen" von M. Schulte von Drach und "Das Leben denkt über sich selbst nach" von Martin Urban). Schon seit vielen Jahren von namhaften Neurologen und Psychologen nicht nur angezweifelt, Die selbstbewußte Annahme der "Damen und Herren" der Schöpfung, sie seien Herr über ihr Denken und Handeln wurde zwar sondern von ihnen auch dargelegt, wir seien, kraß ausgedrückt, "Affen ohne einen freien Willen". Angesichts der geballten Meinung der Forscher und der nicht mehr zu bremsenden Verbreitung ihrer Erkenntnisse sind die Auswirkungen auf die Gesellschaft noch nicht abzusehen, nicht nur auf die christlichen Kirchen, wie Martin Urban ausgeführt hat (SZ v. 15.06.01).

Beim Verwenden des Begriffs "freier (oder unfreier) Wille" wird meistens übersehen, daß "Wille" von "wollen" hergeleitet ist. Und "wollen" bedeutet nichts anderes als das zu tun, wofür ein Bedürfnis besteht, (die Pflichterfüllung eingeschlossen). Bedürfnisse können zwar von außen (Werbung) geweckt werden, sie entstehen jedoch im Gehirn.

Die menschliche Fähigkeit des Erkennens und Urteilens ist sehr beschränkt. Sie wird gebremst durch die Unkenntnis der unbewußten Vorgänge im Gehirn. Wir müssen uns nicht nur damit abfinden, daß unsere Gene zu 98 % mit denen der Schimpansen übereinstimmen - deren nächste Verwandte nicht etwa die Gorillas sind, sondern wir -, sondern auch damit, daß bei uns das meiste, was unsere Interaktion mit der Umwelt steuert, unserem bewußten Erleben nicht zugänglich ist. Der Mensch ist machtlos gegenüber dem Einfluß meistens unbekannter, weil ungewollt und unbewußt gespeicherter Erinnerungen, die während des Denkens wirksam sind und gar nicht so selten ihr (un)heimliches Unwesen treiben.

Wir kennen zwar Kopfschmerzen, jedoch beim Denken merken wir nicht, wie das Gehirn arbeitet. Wir befinden uns in der Rolle von unschuldig Betroffenen, die unserem Denksystem ausgeliefert sind und spüren allenfalls Emotionen, die Gefühle auslösen. Die emotionalen Zentren (limbisches System) sind im Verlaufe der Evolution aus der primitivsten Wurzel, dem Hirnstamm, hervorgegangen.  Es hat Jahrmillionen gedauert, bis sich aus diesen emotionalen Bereichen der "Neokortex" entwickelt hat, den wir als den Sitz des Denkens bezeichnen.

Gedächtnissystem (Neokortex) und limbisches (Bewertungs-)System hängen untrennbar zusammen. Erinnerung ist nicht ohne Bewertung möglich, und jede Bewertung geschieht aufgrund der Erinnerung, d. h. an frühere Erfahrungen und Bewertungen, und des gerade anliegenden emotionalen Zustandes. Beim Denken erhalten wir jedoch keine eindeutigen Signale oder gar Warnungen, die uns darüber informieren, wie stark die Einflüsse und die jeweils zugeordneten und im Gedächtnis mitgespeicherten Bewertungen (vorteilig/nachteilig, leidvoll/freudvoll) wirksam sind. Die Bewertung dessen, was das Gehirn tut, erledigt das limbische System. Dies geschieht nach den Grundkriterien "Lust" und "Unlust" und nach Kriterien, die davon abgeleitet sind. Das Resultat dieser Bewertung wird im Gedächtnis festgehalten. Und da die Zahl der Verbindungen vom limbischen System zum Neokortex zahlreicher sind als die in der Gegenrichtung scheint unser Handeln grundsätzlich mehr vom Gefühl beeinflußt zu sein als vom Verstand, was Männer natürlich strickt ablehnen.

Aber vielleicht haben sie nur die Fähigkeit erworben, ihre Handlungen besser zu erklären, um ihren Machtanspruch zu erhalten? Der Vorrang des Gefühls schließt nicht aus, das jeweils auch geschlechtstypische Besonderheiten der Evolution wirksam sind. Wie auch immer, bei der Art, wie unser Gehirn arbeitet, also denkt, muß das Denkergebnis nicht selten Verwunderung und/oder Kritik auslösen. Im Umfeld klingelt es dann ziemlich schnell, wenn etwas unstimmig oder faul ist. Beim (hoffentlich) selbstkritischen Denker läutet (hoffentlich) die Alarmglocke mehr oder weniger verzögert, und zwar deshalb, weil - das gilt für uns alle - die im Gehirn als Ergebnis des Denkvorganges entstandene Entscheidung einschließlich der sogleich vom Gehirn mitgelieferten und dazu passenden Begründung - wir glauben daher auch zunächst, richtig gehandelt zu haben - uns immer erst ca. 1/3 Sekunde später (!) bewußt wird. Man muß diese Aussage mehrmals lesen, um seine volle Tragweite zu erfassen. Nochmals: Alles im Gehirn beschlossene Handeln wissen wir erst etwas später! Zu dieser Erkenntnis kam der amerikanische Neurophysiologe Benjamin Libets bereits vor über 20 Jahren, als er in mehreren Experimenten nachwies, daß uns nur die wenigsten Wahrnehmungen bewußt werden - und wenn, dann auch noch mit Verspätung.

Wir können uns gegenüber dieser Art zu denken nicht wehren. Es bleibt uns daher nichts anderes übrig, als mit den möglicherweise unbeabsichtigten Folgen des Denkvorganges, nach Ansicht der Gesellschaft immer noch aus einem Akt "freier Willensentscheidung" hervorgegangen, fertig zu werden. Schon Charles Darwin hatte Probleme, die Willensfreiheit des Menschen anzuerkennen, und zu ihr eine verblüffend moderne Auffassung, wenn er feststellte, "Unser Bewußtsein weiß nicht um alle Kräfte, die uns veranlassen, etwas zu tun." Deshalb war für ihn die Zuversicht tröstlich, daß seine Einsichten nie und nimmer Gemeingut werden würden. Es hat ja auch eine Weile gedauert, bis Neurologen es merkten und - wegen der schuld- und strafrechtlichen Bedeutung öffentlich äußerten. Auch wenn es die Schuldverfechter und die Bestrafungsextremisten nicht wahrhaben wollen: "Schuld und Strafe sind aus praktischer Sicht ebenso unentbehrlich,  wie sie im Lichte der Vernunft Undinge sind. Hat man erst einmal die Kräfte erkannt, die das menschliche Handeln steuern, fällt es schwer, den Handelnden zu verurteilen." (Robert Wrigth).

Die kleinsten Einheiten des Gehirns sind bereits gründlich erforscht und stellen ein biologisches Wunderwerk dar. Wir können Furcht, Liebe und Freude einzelnen Bereichen des Gehirns zuordnen und es wurde auch schon festgestellt, daß Erinnerungen ständig geändert werden und wir jeweils die geänderte Erinnerung als die ursprüngliche betrachten und hartnäckig verteidigen, eine Eigenschaft des Gehirns, das so manche Zeugenaussage vor Gericht in ein Märchen verwandelt. Und mögen die Neuronenschaltkreise noch so einfach strukturiert sein, es entsteht aus ihren Wechselwirkungen doch irgendwie das unfaßbare Phänomen des menschlichen Bewußtseins. Das Gehirn erwägt und vergleicht unentwegt und berücksichtigt dabei die Vielzahl von Einflüssen und Reaktionen. Es leistet sich dabei (im Normalfall) relativ wenige folgenreiche Fehler. Aber das System des Verschaltens, Umschaltens und Abschaltens der einzelnen Nervenzellen, das Anlegen von Vernetzungen zu Vorstellungen, Repräsentationen und Dispositionen, warum, wie und in welcher Intensität ein Ereignis gespeichert und in welcher Stärke es bei der Entscheidungsfindung abgerufen und berücksichtigt wird, das wissen wir immer noch nicht. Nur die Ergebnisse werden bekannt, hin und wieder gravierende Fehlschaltungen oder Kurzschlüsse, die zu Handlungen führen, die die Gesellschaft verwundert oder ablehnt, vehement ablehnen und darauf reagieren muß, in der Hoffnung, genügend starke Barrieren aufzubauen, die künftig ähnliches Verhalten verhindern.

Die Funktionsvielfalt des Gehirns befähigt uns, sich in der inzwischen, d. h. in den vergangenen zehntausend Jahren ziemlich kompliziert gewordenen Welt zurechtzufinden. Das gelingt uns auch so leidlich bis ziemlich gut. Häufig wird jedoch vergessen, daß das Gehirn das Organ ist, das sich im Laufe der Jahrmillionen seiner Entwicklung als die zentrale Steuereinheit zum Fortpflanzen und zum Arterhalten herausgebildet hat. In dieser Rolle war es offensichtlich sehr erfolgreich. Es filtert weiterhin viele der über die Sinnesorgane (Auge, Nase, Ohr, Haut) aufgenommenen Reize heraus, wenn sie der genannten Zielsetzung nicht dienen. Es verschont uns aber auch davor, die für die genannte Zielsetzung notwendigen Einflüsse auf den gesamten Körper und dessen Reaktionen in allen Einzelheiten zu spüren. Es scheint daher vermessen zu sein zu glauben, wir seien Herr über unser Denken. Diese Einsicht, falls sie vorhanden wäre, läßt die schockierende Interpretation der Erkenntnisse Charles Darwins über die Entstehung der Arten am Ende des 19. Jahrhunderts "der Mensch stamme vom Affen ab" gelassen hinnehmen. Aber damit nicht genug. Heute schließen Psychologen und auch Neurologen aus ihren Experimenten: Wir sind Affen ohne einen freien Willen.

Menschenfreundlicher und sachlicher ausgedrückt: Das Gehirn denkt weitgehend autonom und automatisch in und für uns, ohne daß wir - abgesehen von Einzelheiten - das höchst komplizierte Geschehen überblicken, verstehen und kontrollieren können. Uns bleibt nur übrig, Gott oder darauf zu vertrauen, daß der wahrscheinlich nie in allen Details erkennbare Denkvorgang ohne negative Folgen für uns und die Umwelt funktioniert, also "gut ausgeht". Für den Einzelnen mag diese Feststellung deprimierend sein, sie sollte ihn aber nicht zur Passivität veranlassen. Dem Mitmenschen gegenüber hilft sie, das Verständnis für dessen oft nicht verstehbares Handeln zu erleichtern.

Der Astrophysiker Ulrich Woelk hat einen anderen Ansatzpunkt für seine Überlegungen. "Auf der Ebene der Gene kehrt das alte Dilemma eines mechanistischen Weltbilds und der damit verbundenen Zwangsläufigkeit zurück: Wenn Menschen nur aus Materie bestehen, die den physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, dann ist auch alles, was Menschen aus einem vermeintlich freien Willen heraus tun, nur ein  Ausdruck dieser Gesetze. Eine Auflösung dieses Dilemmas ist weder in den Natur- noch in den Geisteswissenschaften möglich. Wir halten uns für frei und sind in Wirklichkeit nur die Marionetten universaler Kräfte."

Fazit: Der "freie Wille" ist eine Fiktion, die wir zum Erhalten der gesellschaftlichen Ordnung  benötigen.

Theodor Heuss sagte seinerzeit zu seinen Landsleuten: "Wir sind nur Zuschauer unseres Schicksals." Geben die Erkenntnisse der Gehirnforschung nicht Anlaß, unser eigenes Verhalten besser zu beobachten, um daraus zu lernen?

Ulrich Werner

 



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