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Bildung Grade Titel XXXXXXXXXXXXXXXXXXXX / Doktor-Grad, Übersicht / Titelsucht und Titelflucht
 

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Titelsucht und Titelflucht
 Früher hatten es Professoren so leicht! Um ihr Distinktionsbedürfnis zu befriedigen, brauchten sie nichts weiter als ihren akademischen Titel. Als der nicht mehr zog, konnten sie sich immerhin mit Autos als Unterscheidungsmerkmal behelfen. Mittlerweile ist das auch vorbei. Was passiert als Nächstes?  von Hermann Bausinger

duz MAGAZIN 08 vom 19.08.2005

 

„Sehr geehrter Herr Professor!“ Wenn ich einen Brief mit dieser Anrede erhalte, registriere ich es nicht besonders – Briefe sind, wenn man von Liebes­ und Freundschaftsbriefen absieht, ein eher förmliches Medium, und in vielen Fällen sind ja auch die Inhalte ziemlich unpersönlich. Wenn mich dagegen jemand als „Herr Professor“ anspricht, bin ich ein wenig irritiert und versuche eine Einordnung: Entweder der Gesprächspartner (oder die Gesprächspartnerin) legt, ehrlich oder berechnend, eine devote Haltung an den Tag, oder er ist einfach bei der herkömmlichen Form geblieben und hat einiges nicht mitbekommen.

Was er nicht mitbekommen hat, ist nicht so leicht zu beschreiben. Es empfiehlt sich, zunächst einen Blick auf die Ausgangsbasis zu werfen. Vor einigen Jahrzehnten war der Gebrauch des Professorentitels völlig selbstverständlich. Wer einen Professor oder eine Professorin (die ohnehin Seltenheitswert hatte) nur mit dem Namen anredete, war kein Protestler, sondern ein Ignorant. Ich war 33, als ich einen Lehrstuhl übernahm; ich erinnere mich, dass der neue Titel für kurze Zeit etwas befremdend auf mich wirkte, dass ich aber weder die wesentlich ältere Sekretärin noch die zum Teil fast gleichaltrigen Studierenden anwies, auf die förmliche Anrede zu verzichten. Sie war für mich eine Art Dienstbezeichnung, die dazu gehörte. Ich bilde mir ein, dass ich den Titel ohne Einbildung trug, und die Gesprächspartner litten nicht unter der verbalen Verbeugung, weil es im Grunde keine solche war, sondern eine undiskutierte Norm, die Verhaltenssicherheit garantierte.

Aber allmählich – übrigens schon vor 1968 – sickerten in dieses alltägliche Ritual kritische Bedenken und damit Unsicherheiten. War der Titel nicht Ausdruck einer Hierarchisierung, die sich nicht aufs berufliche Umfeld beschränkte und die in einer demokratischen Gesellschaft nicht mehr angebracht war? Die akademische Titelseligkeit wurde polemisch attackiert. In Göttingen, so hieß es, habe die Frau eines Ordinarius die Liberalität der Umgangsformen durch den Hinweis unterstrichen, bei ihnen würden sogar die Gattinnen von Extraordinarien zum Kaffeekränzchen mit geladen. Und auch die keineswegs ungewöhnliche Ausweitung des Titels auf die angetraute „Frau Professor“ war ja doch ein Zeichen für den fragwürdigen gesellschaftlichen Anspruch, der mit dem Titel verbunden war.

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Prof. Dr. em. Hermann Bausinger

Begründer der Tübinger Schule der Empirischen Kulturwissenschaft

Hermann Bausinger, 1926 in Aalen geboren, studierte nach Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft Germanistik, Anglistik, Geschichte und Volkskunde. Seine 1952 eingereichte Dissertation ‚Lebendiges Erzählen' gilt als ein Wendepunkt der Nachkriegsvolkskunde hin zu einer an Kultur und Alltag orientierten Empirischen Kulturwissenschaft. Von 1960 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1992 war Bausinger Leiter des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen. Seit mehr als vier Jahrzehnten trägt Bausinger mittlerweile den Professorentitel – und will daran nicht in jeder Anrede erinnert werden.

 



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