Es ist ein berührender Preis. Er ist ein Stab. Er schützt und hilft, verheertes Terrain zu durchqueren. Verheertes Terrain? - Ein traditionsreicher deutscher Lexikonverlag warb für seine vielbändige Enzyklopädie mit dem Porträt des Außenministers der Bundesrepublik Deutschland, Joschka Fischer, und dessen Ausspruch „Wer keine Ahnung hat, hat auch keine Meinung". Wer keine Ahnung hat, hat auch keine Meinung? Wenn dem doch so wäre! Wer keine Ahnung hat, hat leider meist eine Meinung, ja, viele haben eine Meinung, weil sie keine Ahnung haben. Anders gesagt: Wer heute Ahnung hat, wagt sich kaum noch, eine Meinung zu haben. Was Fischer sagen wollte, war wohl: Wer nicht genug weiß, kann sich kein Urteil bilden. Wenn ein Verlagshaus, das das geballte Menschheitswissen verwaltet, nicht bemerkt. daß es mit einem unzutreffenden Ausspruch wirbt und bei seinen potentiellen Käufern einen Intelligenzquotienten voraussetzt, der einer solchen Werbung nicht im Wege steht. dürfte das allgemeine Denkniveau Anlaß zur Sorge sein.
Künftig und zukünftig - ein Unterschied
Je niedriger das Denkniveau, desto undifferenzierter die Sprache, und je undifferenzierter die Sprache, desto fortschreitender ihre Verarmung. Man höre bewußt die Wortsendungen des Rundfunks! Alles ist „aktuell" - meist überflüssigerweise -: das Wetter, die Verkehrslage, der Börsenkurs, die Diskussion, die Situation, der Gesichtspunkt, die Mode, der Bedarf und so weiter. Wörter wie „gegenwärtig, „augenblicklich , „momentan, „heutig oder „derzeitig" werden Ihnen nur noch im Ausnahmefall zu Ohren kommen. Kaum ein Journalist oder Politiker weiß noch zu unterscheiden zwischen „künftig" (in Zukunft) und „zukünftig" (die Zukunft betreffend oder Zukunft habend. Zu hören ist fast nur noch „zukünftig", was natürlich viel fortschrittlicher klingt und auf die sprechende Person zurückzustrahlen scheint, und das Wort „künftig" droht aus der lebendigen Sprache herauszufallen. - Nachdem er hundertvierzig Übersetzungsklausuren aus dem Englischen korrigiert hatte, schrieb mir ein befreundeter Bonner Geschichtsdozent, die jungen Semester seien nicht nur bar jeder historischen Kenntnis - „jeder" unterstrichen -, sondern auch arm an Sprachphantasie und alltäglichen Redewendungen. Es sei erschütternd. In dem Brief heißt es: „Aber noch viel schlimmer ist, daß auf diese Dinge kein Wert mehr gelegt wird. Im übrigen trauen sich auch viele Dozenten nicht, so etwas anzumerken." Ein Professor für Informatik an einer sächsischen Hochschule beklagte sich über die „profunde Unfähigkeit" der Mehrzahl seiner Studenten, „sich sprachlich einigermaßen zu artikulieren. Er schrieb: „Wir können von der Datenautobahn kaum profitieren, da wir uns fortwährend im intellektuellen Stau befinden." Im Leserbrief einer Wissenschaftlerin an die Frankfurter Allgemeine Zeitung hieß es: „Die Texte des akademischen Nachwuchses, die ich das Vergnügen habe, ... lesen zu dürfen, sind in vielen Fällen einer Kulturnation unwürdig."
Abgehackt: von der Schreibschrift zur Druckschrift
Wundem dürfen wir uns darüber nicht. Eine Zeitung titelte: „Deutsch wieder Pflicht für alle Abiturienten". Wer gehofft hatte, dies sei eine Tatsachenmeldung, sah sich getäuscht. Der erste Satz des Einspalters lautete: „Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin ... hat erneut die Wiedereinführung von Deutsch als Pflichtfach für alle Abiturienten gefordert."
Doch die kulturelle Erosion schreitet weiter voran. Auf Anordnung des Bildungsministeriums in Düsseldorf wird in den Schulen Nordrhein-Westfalens keine Schreibschrift mehr unterrichtet. Schreiben habe ökonomisch zu sein, und für die lateinische Schreibschrift seien an die hundertfünfzig Bewegungen zu erlernen und zu automatisieren, Während für die Druckschrift etwa zehn genügten. Ehe der Mensch aber eine Handschrift ausbilden kann, die seine Individualität ausdrückt und die Welt vielleicht um eine ästhetische und, aus späterer Sicht, historische Kostbarkeit bereichert, muß er zusammenhängend und flüssig schreiben können.
Das Binnen-I
Ein Extrem emanzipatorischer Verbiesterung ist das Anfügen femininer Endungen an maskuline Wörter, bei dem das „i" der weiblichen Endung als Großbuchstabe in der Wortmitte aufgerichtet wird wie ein Mast, damit an ihm die Fahne der geschlechtlichen Gleichberechtigung wehe: LehrerInnen, Studentlnnen und so weiter. Der Mann wird jedoch aus dem Wort hinausgesprochen, da der männliche Wortanteil nicht dekliniert werden kann. Dieser Gewalttätigkeit gegenüber der Sprache begegnet man ebenso in kulturpolitischen Publikationen der Sozialdemokratie oder der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft wie - und hier durchgängig - im Forschungsmagazin der Universität Graz, in dem ich das Nichtwort „ÄrztInnen" fand, das die Bezeichnung für den männlichen Arzt bereits im Nominativ nicht mehr enthält. Doch auch auf einem Buch mit Postkarten der großen Dichterin Christine Lavant, das in einem seriösen österreichischen Literaturverlag erschien, heißt es im Werbetext der Herausgeberin: „Das Postkartenbuch ... hält zugleich für LiebhaberInnen Ergänzungen ihrer Beschäftigung und ihres Sammelns wie für EntdeckerInnen Angebote zum Einsteigen bereit. Die ... Motive ... sind in ihrer Ästhetik auch einzeln für die jeweiligen AdressatInnen ansprechend." Das ist, neben unerträglichem Deutsch, Sprach- und Geisteszersetzung in einem.
„Lob der Rechtschreibung"
Den gravierendsten Kulturbruch aber bedeutet die Rechtschreibreform, doch besteht wenigstens in diesem Fall Grund zur Zuversicht. In Horst Haider Munskes Aufsatz „Lob der Rechtschreibung", einem Hohelied auf die „Haut der Sprache", nachzulesen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. Oktober 2004 und jedem zu empfehlen, der sich vom den kulturellen Folgen der Reform einen begründeten Begriff machen möchte, in diesem weisen Aufsatz heißt es: „Die deutsche Rechtschreibung ist lobenswert ... Ein besonderes Lob verdient sie für die Widerstandskraft, die sie gegenüber zahllosen Reformversuchen gezeigt hat. Diese [Widerstandskraft] dankt sie natürlich ihren Verteidigern, die sich nicht von platten Nützlichkeitsideen ins Bockshorn jagen ließen, die Ausdauer bewiesen und Überzeugungskraft." Und an anderer Stelle heißt es, die einzige Grenze, die die Rechtschreibreformer notgedrungen akzeptierten, sei „der Widerstand der Sprachgemeinschaft, der ihnen Stück für Stück ihre Reformen zunichte macht." Des Verfassers Ausblick: „So werden Rechtschreibreformen immer magerer, bis sie ganz sterben."
Zweifelsohne war die Sprache noch nie einer solchen staatlichen, wirtschaftlichen, technischen und medialen Gegenmacht ausgesetzt wie heute, aber letztlich unterrichten in den Schulen noch immer Menschen, schreiben in den Ämtern Menschen, entscheiden in den Buch- und Zeitungsverlagen Menschen, und es sind Menschen, die ihren persönlichen Rechner mit Programmen bestücken.
Eine Reform als Rückschritt
In einem respektvollen Brief vom 4. Februar 2003 machte der Lüneburger Philologe Dr. Martin String die damalige Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Staatsministerin Karin Wolff, unter anderem auf den Unterschied „zwischen zwei Sorten orthographischer Schreibweisen aufmerksam. „Es gibt solche, schrieb er, die als rein konventionell bezeichnet werden können; ihre Veränderung dient der Vereinfachung und berührt weder die Bedeutung noch die grammatische Funktion des Wortes (seyn/sein). Es gibt jedoch auch Schreibweisen, die mit dem Ausdruck eines bestimmten Sinnes verbunden sind ... Dies trifft... auf die Groß- und Kleinschreibung zu, außerdem auf das Getrennt- und Zusammenschreiben und auf etymologische Schreibungen... Aber während ich mir einbildete, an andere Dinge zu denken, arbeitete es unter der Hand in mir weiter...` schrieb Thomas Mann in ,Herr und Hund` 1919. Später, in „Zauberberg und „Felix Krull benutzte er das zusammengeschriebene „unterderhand, das dann auch in späteren Ausgaben von „Herr und Hund erscheint. Der Vorteil der neuen Schreibweise dürfte einleuchten. Die Reform kehrt zur alten zurück, während sie es bei „vorderhand beläßt. Schiller schrieb im „Taucher 1797: „Des Hammers gräuliche Ungestalt, verbesserte aber für die Ausgabe letzter Hand in „greuliche Ungestalt. Offenbar sollte der Leser nicht nur an eine Farbe denken. Auch diesen Fortschritt der Rechtschreibung will die Reform rückgängig machen. Die hier dargestellte Unterscheidung ... ist von der Kultusministerkonferenz immer geleugnet worden. Zweimal habe ich es vom damaligen Präsidenten, Professor Wernstedt, selbst gehört, daß „Orthographie mit dem Sinn nichts zu tun habe.
Schaden von der Sprachgemeinschaft fernhalten
Die Sprache selbst ist es, die ihre Verteidiger mobilisiert, und es wird immer Menschen geben, die tun, was, nach Karel Capek, „ein einsamer und sozial abhängiger Intellektueller tun soll und tun kann", nämlich „unter keinen Umständen seine geistige Disziplin verraten". Daran werden auch Beschlüsse von Ministerpräsidenten und Kultusministern nichts ändern, die sich, wie die Antwort beweist, die der Philologe Martin String vom Sekretariat der Kultusministerkonferenz erhielt, über einen Friedrich Schiller oder Thomas Mann erhaben dünken: „...für Ihr Schreiben vom ... an ..., mit dem Sie Ihre Haltung zur Neuregelung der Rechtschreibung darlegen, danke ich Ihnen. Die Präsidentin hat mich gebeten, Ihnen zu antworten... Ich möchte darauf verzichten, auf Einzelheiten Ihres Schreibens einzugehen."
In der Zeitschrift „Gymnasium in Niedersachsen", Ausgabe 1/2004, schreibt Wolfgang Steinbrecht in alter Rechtschreibung: „Es ist offensichtlich, daß die neue Schreibung wie ein dünner Firnis über der alten liegt und sich ganz eigentlich nicht durchgesetzt hat (...) In der deutschen Sprachgemeinschaft mit ihren Millionen von kompetenten Schreibern wird sich das Bedürfnis verstärken, wieder zusammenzuschreiben, wenn man das Gefühl hat, man schreibe ein Wort, und klein zu schreiben, wenn man das Gefühl hat, man schreibe ein Wort, das kein Substantiv ist. Es ist kein Verstoß gegen die Weisungsbindung des Beamten, hier den Ermessensspielraum weit auszulegen. Als Gymnasiallehrer sind wir gehalten, unseren Lernstoff - und Rechtschreibung ist ein solcher - glaubwürdig zu begründen, und als Beamte sind wir verpflichtet, Schaden von der Gemeinschaft fernzuhalten. Gemeinschaft bedeutet auch Sprachgemeinschaft."
Untergang des Abendlandes?
Hans Hofmann aus Bad Dürkheim legte den Schülerinnen und Schülern seines Leistungskurses Deutsch zur Reifeprüfung 2004 einen Text vor, in dem die Ablehnung bestimmter neuer Schreibungen begründet wird, sowie eine Polemik aus der Zeitung „Rheinpfalz", in der der Verfasser, Michael Braun, die Reformkritiker der Lächerlichkeit preiszugeben versucht, indem er ihnen unterstellt, sie sähen in der neuen Rechtschreibung den Untergang des Abendlandes. Die Abituraufgabe lautete, sich über beide Texte ein Urteil zu bilden und dieses zu begründen.
Daß das Abendland nicht untergeht, ist nicht das Verdienst von Leuten, die seinen Namen verantwortungslos im Munde führen, sondern von Bürgern mit Zivilcourage wie den Lehrern String, Steinbrecht, Hofmann oder Stefan Stirnemann aus St. Gallen, dessen vorbildlich sachbezogene Beweisführung Sie aus der Neuen Zürcher Zeitung und den Schweizer Monatsheften kennen, ganz zu schweigen von Friedrich Denk aus Weilheim, dem Initiator der „Frankfurter Erklärung von 1966 und unermüdlichen, fast kein persönliches Opfer scheuenden Wachrüttler der Öffentlichkeit, dessen große Stunde kommen wird; wenn sich die deutsche Sprache auch in der Schule wird wieder auf sich selbst besinnen dürfen.
Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Herr Müntefering, nannte jene, die sich gegen die in wesentlichen Teilen reaktionäre Rechtschreibreform und die repressiven Methoden ihrer Durchsetzung verwahren, „nur einige Hochwohlgeborene", die meinten, sie „müßten das aus ästhetischen oder sonstigen Gründen noch mal korrigieren". Ich, hochwohlgeborener Bergarbeitersohn, dessen Vorfahren väterlicherseits ihr Leben lang unter Tage gearbeitet haben, antworte Herrn Müntefering: Uns schreckt Finsternis nicht.
Rede zur Verleihung des STAB-Stiftungspreises am 6. November 2004 in Zürich. Aus: Reiner Kunze, Bleibt nur die eigne Stirn. Ausgewählte Reden, Radius-Verlag, Alexanderstraße 162, 70180 Stuttgart 2004, gebunden, 200 Seiten, 18,00 Euro. Zu Bestellen über den DSW-Buchdienst..
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