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Gehirn - Geist / Artikel Übersicht / 101. X-Mythologie des Gehirns
 

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Mythologie des Gehirns - Eine Kritik und ein Beispiel
Von Helmut Mayer

Feuilleton der Neue Züricher Zeitung - Internationale Ausgabe - vom 13./14. September 2003 Nr. 212 S 37

 

Liest man neurowissenschaftliche Literatur, kann man sich leicht überzeugen, dass das Gehirn rechnet, konstruiert, glaubt, fühlt, interpretiert, Hypothesen konstruiert, entscheidet. Die Liste lässt sich verlängern und umfasst eine Menge von Tätigkeiten und Fähigkeiten, die uns allesamt recht vertraut sind. Doch auf vertrautem Terrain sind wir deshalb nicht unbedingt. Denn was das Gehirn erfährt und tut, spannt einen Raum des privaten Inneren auf, den wir im Alltäglichen gar nicht in Betracht ziehen und der von aussen nach Kriterien des Verhaltens allenfalls indirekt erschliessbar ist: Nur der Besitzer dieses mentalen Innenraums selbst hat direkten Zugang zu ihm: Introspektiv erkennt er, in welchem Zustand er ist bzw. sein Gehirn, sofern man von einer eindeutigen Korrelation mit Gehirnzuständen ausgeht, wie es wissenschaftlich naheliegt.

Dieser subjektive Modus der Erfahrung des Inneren ist fundamental: Mein Schmerz ist nur mir zugänglich, und ich kann nicht wissen, wie sich der Schmerz des anderen anfühlt. Und ebenso ist Bewusstsein offensichtlich ein privates, auf die Perspektive der ersten Person eingeschränktes Phänomen (und aus neurowissenschaftlicher Perspektive eine Eigenschaft oder ein Merkmal des Gehirns bzw. bestimmter seiner neuronalen Netzwerke): Nur ich weiss schliesslich, wie sich meine Rotempfindung oder mein Zahnschmerz anfühlt.

Aufklärung

Das ist ein Kompositbild aus Elementen, die sich in verschiedenen Zusammenstellungen, in fachlichen wie auch populären Veröffentlichungen prominenter Neurowissenschafter finden. Jedes dieser Elemente verdankt sich tiefgreifenden Missverständnissen sowohl der zu erklärenden Phänomene wie der neurowissenschaftlichen Forschungsprogramme und der von ihnen sinnvoll zu traktierenden Fragestellungen: Dies vor Augen zu führen, ist der Anspruch von P. M. S.: Hacker und M. R. Bennett in ihrem gemeinsam verfassten Buch. Max Bennett ist selbst ein renommierter Neurowissenschafter, der Oxforder Philosoph Peter Hacker ist vor allem als Interpret der Schriften Ludwig Wittgenstein bekannt und hat sich immer wieder mit Strömungen innerhalb der angelsächsischen Philosophie auseinander gesetzt.

Der Titel von Bennetts und Hackers Darstellung, «Philosophical Foundations of Neuroscience», zielt nicht etwa darauf, dass Philosophie ein theoretisches Fundament zur Verfügung stelle. Philosophie im Wittgenstein´schen Sinn, dem die Autoren folgen, entwirft keine Theorien und verficht keine strittigen Thesen, sondern leistet begriffliche Klärungsarbeit: Sie steuert der fortgesetzten Versuchung gegen, unseren Wortgebrauch systematisch misszuverstehen. Dazu gehört, sich nicht von bestimmten Beispielen des Wortgebrauchs und den mit ihnen assoziierten Bildern in Bann schlagen zu lassen, sondern den verschiedenen Gebrauchsweisen und ihren Zusammenhängen nachzuspüren. Was so umrissen wird, sind begriffliche Zusammenhänge, ist die «Grammatik» von Wörtern oder Wendungen, und der von ihnen nicht abtrennbaren Handlungskontexte.

So verfahren die Autoren denn auch mit Blick auf die von ihnen versammelten heiklen Explikationsansprüche von Neurowissenschaftern. Ein wichtiger Punkt ist, dass diese Ansprüche auf Erklärung unseres gewohnten psychologischen Vokabulars - wie etwa «denken», «glauben», «wissen», «fühlen», «bewusst sein»... - nur dann triftig sein können, wenn die Wörter in ihrer üblichen Bedeutung expliziert und also auch verwendet werden. Kein Ausweg lässt sich plausibel machen, der von einer Änderung oder Ersetzung der üblichen Bedeutungen ausgeht, welche dann als «folk psychology» beiseite gesetzt werden. Sieht man sich aber den Gebrauch dieser Wörter unbefangen an, wird hinreichend klar, dass sie nur auf Menschen als Ganzes - allgemeiner auf Tiere einer gewissen Entwicklungsstufe -, nicht auf ihre Teile angewendet werden können: Es ist nicht etwa empirisch falsch, vom denkenden, fühlenden, wahrnehmenden etc. Hirn zu sprechen: Es ist vielmehr eine begriffliche Verwirrung.

Dieser «mereologische Trugschluss» vom Ganzen auf einen Teil, auf das Gehirn, ist grundlegend für die meisten anderen Verzeichnungen. Das Modell des privaten Innenraums wird durch ihn für die Hirnforschung adaptierbar. Aber dieses Modell ist im Kern nur ein schiefes Bild: Weder müssen wir uns durch Hinwendung zu einem solchen prinzipiell privaten Inneren vergewissern, dass wir bestimmte Dinge wissen, glauben oder fühlen. Noch lässt sich die Unterscheidung zwischen direktem und bloss indirektem Zugang aufrechterhalten: Ich erkenne die Schmerzen des anderen an seinem Schmerzverhalten; dass er sie verbergen oder vortäuschen kann, rechtfertigt durchaus nicht die Konstruktion eines mentalen Sonderbereichs Und meine Schmerzen habe ich - und brauche, um das zu wissen, weder in mein Inneres noch auf mein Verhalten zu schauen.

Die Sache wird noch verquerer, wenn die «Qualia» bemüht werden und plötzlich Probleme der Art auftauchen, unsere Rotempfindung angesichts eines roten Gegenstands oder das Schmerzhafte unserer Schmerzen erklären zu wollen. Geduldig bemühen sich Bennett und Hacker um den Nachweis, dass hier kein tiefgründiges Problem vorliegt, sondern die Sprache auf fast schon paradigmatische Weise «feiert». Und auch die Vorstellung, unsere Fähigkeiten und unser Verhalten letztlich in terms der Funktion von Neuronen beschreibbar zu machen, hat mit Neurowissenschaft nichts, viel aber mit metaphysischen Verirrungen zutun.

Es ist ohne Zweifel ein fruchtbares Feld für Klärungsarbeit, auf dem sich Bennett und Hacker bewegen. Aber selbstverständlich würde man in der «philosophy of mind» und angrenzenden Gebieten der Kognitionswissenschaft mindestens ebenso leicht fündig. Kaum jemand, der das besser wüsste als Peter Hacker, und so kommen durchaus auch Philosophen ins Visier. Warum aber dann die Konzentration auf die Neurowissenschaften, auf Autoren wie Blakemore, Chalmers, die Churchlands, Crick, Damasio, Gazzaniga, Le Doux, Edelmann und andere? Weil sich in diesem Feld tatsächlich eine veritable Mythologie des Gehirns ausgebildet hat die überdies über populäre Darstellungen, auch ein breites Publikum erreicht. Man kann die Probe darauf bei dem gerade auf Deutsch erschienenen jüngsten Buch von Antonio Damasio machen, der seit «Descartes' Irrtum» als Bestsellerautor gilt. Seine Untersuchungen zum Zusammenhang von rationalem Entscheiden und konsequentem Verfolgen von Zielen auf der einen, der Fähigkeit zum Empfinden von Emotionen auf der anderen Seite haben Damasio zu Recht Anerkennung eingetragen. Aber die Theorie der Emotionen, die er ausgehend davon entwickelt hat, ist eher ein ausgezeichneter Beispielfall für die von Bennett und Hacker konstatierten Verwirrungen.

Schiefe Konstruktionen

Damasio setzt emotionales Verhalten vom begleitenden Fühlen ab: Ersteres sei öffentlich und beobachtbar, Letzteres im verborgenen Innraum angesiedelt. Eine unglückliche Unterscheidung, doch Damasio möchte unbedingt seine Vorstellungen darüber anbringen, wie diese subjektive Innenseite im Laufe der Evolution zum emotionalen Verhalten dazugekommen sein mag: Empirische Nötigung gibt es dazu eigentlich keine; und halten lässt sich auch nicht, was Damasio prinzipiell unter Gefühl verstehen möchte: der mentale Effekt eines inneren Gewahrwerdens von Körperzuständen, deren Veränderungen ihrerseits durch bestimmte, von äusseren Reizen ausgelöste mentale Bilder verursacht sind. Weder lernen wir Gefühlsausdrücke durch Verweis auf körperliche Symptome, noch lassen sich für alle Gefühle solche Symptome sinnvoll angeben, noch trägt das der Begründetheit und Angemessenheit Rechnung, die wir bei vielen Gefühlen konstatieren, vermissen oder fordern.

Solche schiefen Konstruktionen stellen vor die Frage, wie sie eigentlich zustande kommen, wozu man bei Bennet und Hacker bündige Hinweise auf heikle historische Anbahnungen finden kann. Überzeugend ist ihr Nachweis – geführt vor dem Hintergrund einer prägnanten Darstellung der historischen und begrifflichen Wurzeln der Neurowissenschaft –, dass die aufgezeigten Missverständnisse letztlich durch eine einfache Ersetzung im dualistischen Schema à la Descartes zustande kommen: An die Stelle des Geistes trat einfach das Gehirn. Womit der fatale Dualismus in anderer Gestalt, wenn auch «materialisiert», weiterlebte. Mit anderen Worten: Es ist der Schatten Descartes', der Neurowissenschafter zu ihren Ausritten über die Grenzen des Sinns hinaus verführt.

Teile dieser auch hier  zu findenden Rezension wurden in Helmut Mayer's Artikel "Ach, das Gehirn - Über einige neue Beiträge zu neurowissenschaftlichen Merkwürdigkeiten"  verwendet; der Text ist online  auch hier zu finden und wurde mit dem Titel "Ach das Gehirn. Über einige neurowissenschaftliche Publikationen" wieder abgedruckt in: Geyer, Chr. (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit - Zur Deutung der neuesten Experimente. edition suhrkamp (2387), Frankfurt 2004, S. 205 - 217

berichtigt und ergänzt am 19.12.2006 

 



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