Zur deutschen Sprache
Die Sprache ist ein Bild der Seele ...
www.sprache-werner.info
Zur deutschen Sprache
Die Sprache ist ein Bild der Seele ...
www.sprache-werner.info
Gehirn - Geist / Artikel Übersicht / 2. D-Das Ich ist nicht „Herr im Hause
 

  < zurück erweiterte Suche Seite drucken
 

Das Ich ist nicht „Herr im Hause"
 Ergebnisse der Hirnforschung deuten darauf hin, daß unser bewußtes „Ich“ nicht Verursacher unserer Zustände und Handlungen ist, sondern lediglich ein Konstrukt zur Planung und Ausführung komplexer Handlungen.

 

Von Gerhard Roth, aus „Forschung und Lehre" 5/2000   

Für viele ist es ungewohnt, dass Forscher, die sich im engeren oder weiteren Sinn mit dem Bau und der Funktion von Gehirnen beschäftigen (Neurobiologen, Neurologen, Kognitions- oder Neuropsychologen) sich zu Themen äußern wie Wesen und Herkunft von Geist, Bewusstsein, Gefühlen, Kreativität und Intelligenz bis hin zu der Frage, ob der Wille frei und der Mensch verantwortlich für sein Tun ist.

Diese Themen fallen traditionell in den Bereich der Philosophie, Psychologie, Rechtswissenschaften und Theologie. Entsprechend reichen die Reaktionen vieler Theologen, Philosophen, Geistes- und Sozialwissenschaftler von Skepsis bis zu genereller Ablehnung und zornigen Attacken.

Diese Reaktionen sind verständlich. Denn die Meinungsäußerungen von Hirnforschern scheinen Abgrenzungstabus zu verletzen, die in der modernen Wissenschaft, insbesondere am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Etablierung der Geisteswissenschaften aufgestellt und seither hartnäckig verteidigt wurden. Demnach gehört die Hirnforschung zu den Naturwissenschaften, und diese haben sich nun einmal nicht mit dem Geistig-Seelischen und erst recht nicht mit Fragen der Moral und der Verantwortlichkeit zu befassen.

Die Hirnforschung hat jedoch in den letzten zwei Jahrzehnten große Fortschritte gemacht, insbesondere was die Aufklärung derjenigen Strukturen und Funktionen im Gehirn betrifft, die mit so genannten geistigen Leistungen einschließlich des Bewusstseins zu tun haben. Sie hat begonnen, die Weit der Gefühle zu erforschen und damit die Welt des Unbewussten in uns, das Sigmund Freud vor hundert Jahren erstmalig in genialer Weise thematisiert, aber gleichzeitig einer empirischen Untersuchung entzogen hat.

Die Frage, wer oder was in uns unser Handeln bestimmt, ist zu einem aktuellen Gegenstand neurowissenschaftlicher Forschung geworden. Schließlich hat es in letzter Zeit eine große Zahl von Untersuchungen zu der Frage gegeben, ob und in welchem Maße Tiere, insbesondere Affen und Menschenaffen geistige Fähigkeiten einschließlich Bewusstsein besitzen und inwieweit die festgestellten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Tieren und dem Menschen sich in Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Aufbau der Gehirne widerspiegeln. Dies mündet in die Behandlung der Frage, ob und inwieweit wir Menschen als Natur- und Geistwesen einzigartig sind.

In diesem Zusammenhang präsentiere ich vier Grundthesen, die ich jeweils kurz erläutere.

Erste These: Es gibt keinen Geist ohne Gehirn; geistige Leistungen einschließlich Bewusstsein sind unabtrennbar mit der Aktivität bestimmter Hirnzentren verbunden.

Die Hirnforschung kann inzwischen mithilfe verschiedener Methoden, vor allem der so genannten bildgebenden Verfahren (zum Beispiel der Positronen-Emissionstomografie und der funktionellen Kernspintomografie) im Rahmen bestimmter Grenzen der räumlichen und zeitlichen Auflösung angeben, welche Strukturen und Funktionen im menschlichen Gehirn mit dem Auftreten geistiger/bewusster Prozesse von bewusster Wahrnehmung über Aufmerksamkeit, bewusster Handlungsplanung bis hin zur Selbstreflexion verbunden sind. Man kann die verschiedenen Bewusstseins- und Ich-Zustände der Aktivität verschiedener Gehirnzentren zuordnen.

Dabei gilt: Nur das ist uns bewusst, was mit der Aktivität der Großhirnrinde (Cortex) verbunden ist. Prozesse, die in Bereichen des Gehirns außerhalb des Cortex ablaufen - so kompliziert und wichtig für das Entstehen geistiger Zustände sie auch sein mögen - sind grundsätzlich unbewusst.

Bewusstseinszustände sind mit einer Umverknüpfung vorhandener Nervennetze in der Großhirnrinde verbunden, und zwar in Situationen, in denen das Gehirn mit Problemen konfrontiert ist, für die es noch keine fertige Lösung besitzt. Diese Umverknüpfung ist mit einem erhöhten lokalen Hirnstoffwechsel (besonders was den Zucker- und Sauerstoffverbrauch betrifft) und einer erhöhten lokalen Gehirndurchblutung verbunden, was die genannten bildgebenden Verfahren ausnutzen.

Blockiert man diese Umverknüpfung beziehungsweise die Erhöhung von Hirnstoffwechsel Lind Hirndurchblutung (zum Beispiel durch Narkosemittel), beeinträchtigt man Bewusstseinszustände in voraussagbarer Weise. Dies bedeutet: Geist und Bewusstsein vollziehen sich innerhalb bekannter physiologischer, physikalischer und chemischer Gesetzmäßigkeiten; sie fügen sich in das Naturgeschehen ein, sprengen es nicht.

Unterschiedliche Bewusstseins- und Ichformen treten in der kindlichen Entwicklung nacheinander auf, und zwar in strenger Parallelität mit dem Ausreifen des Gehirns. Dieses Ausreifen vollzieht sich allerdings im Rahmen einer intensiven Interaktion mit der natürlichen und sozialen Umwelt.

Zweite These: Das menschliche Gehirn ist nicht einzigartig; dies gilt auch für die „typisch menschlichen" Fähigkeiten wie Bewusstsein, Denken und Handlungsplanen. Nur der Besitz einer komplexen syntaktischen Sprache scheint eine Ausnahme zu bilden.

Das menschliche Gehirn ist ein typisches Säugetiergehirn und darüber hinaus ein typisches Primatengehirn. Seine Teile unterliegen denselben evolutiven Trends (zum Beispiel Vergrößerung der Großhirnrinde, des assoziativen und insbesondere des präfrontalen Cortex), die sieh auch bei (anderen) Tieren finden. Die geistigen Fähigkeiten des Menschen haben klare Vorstufen bei Tieren, insbesondere bei Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans sowie bei Delfinen. Dies gilt für verschiedene Bewusstseinsstufen wie das Erleben von Sinneseindrücken, Selbsterkennen und Ich-Identität, Aufmerksamkeit, bewusste Handlungsplanung einschließlich des Einkalkulierens dessen, was andere denken und planen.

Eine Ausnahme mag selbstreflexives Denken bilden. Dies ist allerdings schwer oder gar nicht Überprüfbar. Der Besitz einer komplexen syntaktischen Sprache scheint das einzige zu sein, was einigermaßen objektivierbar den Menschen auch von seinen nächsten Verwandter, den Schimpansen, unterscheidet.

Viele Säugetiere und Vögel haben sehr effektive intraspezifische, stark von Lernen Lind Erfahrung geprägte Kommunikationssysteme. Allerdings kommt ein der menschlichen Sprache vergleichbares Kommunikationssystem bei Delfinen, Gorillas oder Schimpansen auch nach intensivsten Training nicht über das Stadium von Sätzen hinaus, die aus zwei bis drei Wörtern bestehen, wie es für Kleinkinder im Alter von zwei bis drei Jahren typisch ist. Zu diesem Zeitpunkt reift das so genannte Broca-Areal im Stirnhirn aus, das für die Syntax der menschlichen Sprache zuständig ist. Auch wenn Sprache kein evolutiver Neuerwerb des Menschen ist, so hat doch der Besitz einer syntaktischen Sprache die geistigen Fähigkeiten des Menschen enorm gesteigert. insbesondere was die Fähigkeit zu Handlungsplanung und Selbstreflexion betrifft.

Dritte These: Persönlichkeit und Charakter des Menschen formen sich in großen Teilen sehr früh, das heißt in den ersten zwei bis drei Lebensjahren, und zwar im Zusammenhang mit der Ausbildung des limbischen System. Sie werden dann zunehmend resistent gegen spätere Erfahrungen.

Die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen wird im wesentlichen durch das limbische System festgelegt. Hierzu gehören Strukturen wie der Mandelkern (Amygdala), das ventrale Striatum, der Nucleus accumbens, das basale Vorderhirn oder der Hypothalamus. Das limbische System bewertet alles, was wir tun, nach Kriterien wie gut/erfolgreich/lustvoll beziehungsweise schlecht/erfolglos/schmerzlich und speichert die Resultate dieser Bewertung ab. Es nimmt bereits im Mutterleib seine Arbeit auf, viel früher, als die typisch menschlichen Formen des Bewusstseins, insbesondere des Ich, der bewussten Handlungsplanung und des bewussten Wissens entstehen (ab dem vierten Lebensjahr). Das grundlegende Verhältnis eines Individuums zu sich, zur Welt und insbesondere zu anderen Menschen formt sich also weitgehend unbewusst und bildet den Rahmen, in den hinein spätere Erfahrungen gemacht werden.

Dieser Prozess ist ein weitgehend selbststabilisierender Prozess, das heißt, es werden in aller Regel die Erfahrungen angeeignet, die bereits bestehende Erfahrungen bestärken. Je weiter die psychisch-emotionale Entwicklung fortgeschritten ist, desto schwerer wird es, derartige Grundeinstellungen zu ändern.

Netzwerke in den limbischen, unbewußt arbeitenden Zentren des Gehirns scheinen die Eigenschaft zu haben, dass sie relativ schnell lernen, aber schwer „vergessen“ können. Dem entspricht die Erfahrung, dass sich erwachsene Menschen in ihren Grundstrukturen nur aufgrund emotional stark besetzter Ereignisse ändern, nicht aber durch bloße Einsicht.
Vierte These: Wollen, Denken und Verhalten des Menschen werden in großen Teilen von limbischen Gehirnsystemen gesteuert, die grundsätzlich unbewusst arbeiten. Dem bewussten Ich sind diese Antriebe nur sehr begrenzt zugänglich.

Subjektiv erleben wir uns in großen Teilen unseres Denkens, Fühlens, Wollens. unserer Handlungsplanung und -ausführung als frei. Unser Ich empfindet sich dabei als Verursacher dieser Zustände und Handlungcn. Dies ist wohl eine Illusion. Es zeigt sich, dass Gedanken und Absichten, die uns in den Sinn kommen. weithin durch das limbische Systems veranlasst und gesteuert werden, das besonders stark auf das Stirnhirn einwirkt.

Das Stirnhirn gilt mit einigem Recht als der „Sitz" von Bewusstsein, Ich-Gefühl, Handlungsplanung und Handlungsbewertung (wenngleich in enger Interaktion mit vielen anderen Hirnzentren). Diese Beeinflussung durch das limbische System vollzieht sich im Rahmen genetisch (fixierter Vorgaben sowie der Gesamtheit der individuellen Vorerfahrung, die in den limbischen Zentren niedergelegt ist und in einer bestimmten Situation oder auch völlig spontan aufgerufen werden.

Dieses unbewusste Erfahrungssystem wird auch in jedem Augenblick unserer Handlungssteuerung abgefragt, und zwar danach, ob und in welchem Maße unsere früheren Erfahrungen einer Situation entsprechen und ob das Geplante dann auch getan werden soll. Wir Menschen haben offensichtlich eine nur geringe Einsicht in die eigentlichen Beweggründe unseres Handelns.

Das weitgehend sprachlich-sozial vermittelte Ich baut seine eigene Rechtfertigungswelt für unser Handeln auf, die oft wenig mit dem zu tun hat, was die unbewusst arbeitenden Gehirnzentren entscheiden. Das Ich ist nicht der „Herr im Hause". sondern ein Konstrukt des Gehirns zur besseren Planung und Ausführung komplexer Handlungen, insbesondere im Bereich sozialer Kommunikation.

Die genannten Aussagen sind - wenn sie sich weiter bestätigen sollten - geeignet, unser traditionelles Menschenbild stark zu erschüttern. Freilich enthalten sie nichts, was nicht Philosophen, Psychologen oder gute Menschenkenner zu allen Zeiten bereits gesagt haben. Das Nette an der heutigen Situation ist, dass diese Aussagen durch empirische Untersuchungen erhärtet werden und nicht mehr einfach als bloße Vermutungen abgetan werden können.

Gerhard Roth ist promovierter Philosoph, promovierter Zoologe, Professor für Verhaltensphysiologie und Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst und Direktor am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen.

 



zum Seitenanfang < zurück Seite drucken