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Gehirn - Geist / Artikel Übersicht / 76. X-Hirnforschung und Willensfreiheit
 

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Hirnforschung und Willensfreiheit
von Ingo-Wolf Kittel  

   

bvvp-magazin 3/2005

Gelegentlich ist es sinnvoll, manchmal sogar nötig, sich auch auf banale Realitäten zu besinnen, z.B. auf die Tatsache, dass in der Forschung diejenigen am kompetentesten sind, die sie betreiben. Hirnforschern etwa wird man selbstverständlich eine entsprechende Sachkompetenz in der Hirnforschung zugestehen, wenngleich auch zunächst nur für sie. Dazu dürfte man besonders dann bereit sein, wenn erfahrene Hochschullehrer fachliche Stellungnahmen abgeben, selbst wenn sie dabei auch auf andere Fachgebiete übergreifen, insbesondere einen für Hirnforscher derart naheliegenden Bereich wie den der Psychologie.

Hierzu enthält DAS MANIFEST zu „Gegenwart und Zukunft“ der „Hirnforschung im 21. Jahrhundert“, das im Herbst 2004 von der Zeitschrift Gehirn & Geist veröffentlicht wurde und von elf, nach dem Editorial „bedeutenden Neurobiologen“ stammt, einen bemerkenswerten Passus, der die Sicht von Hirnforschern auf psychische Tatbestände schlaglichtartig beleuchtet und die reale Bedeutung der Hirnforschung für die Psychologie auf den ersten Blick deutlich werden lässt: „Nach welchen Regeln d a s G e h i r n arbeitet; wie e s die Welt so abbildet, dass Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als s e i n e Tätigkeit erlebt wird [wie es, scil. das Gehirn s e i n e Tätigkeit erlebt?] und wie e s zukünftige Aktionen plant, all das verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen. Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern.“

Wissenschaftshistorische Analysen werden aufzuweisen haben, wie es möglich war, dass im Verlaufe der vergangenen Jahrzehnte eine einzelne Forschungsdisziplin auf einem derartigen, früher sicher nicht höherem Niveau die wissenschaftliche Grundlage für eine zunehmende Fülle wortpolitischer Verdoppelungen von Einzelwissenschaften abgeben konnte, nämlich die Rede und teilweise sogar institutionelle Verankerung von Neuroversionen einzelner Forschungsbereiche bis hin zu einer Neurophilosophie oder Neuropsychoanalyse und Neuropsychotherapie in unserem Bereich, ja sogar zur Überhöhung oder Reduzierung von Wissenschaft zur bzw. auf Neurowissenschaft (oder auch Kognitionswissenschaft). Entscheidende Anstöße dazu dürften aus dem in den USA entwickelten Programm einer Naturalisierung der Erkenntnistheorie oder gleich der ganzen Philosophie gekommen sein mit dem Ziel ihrer „Auflösung in Psychologie“ und dem „Endziel“, diese wiederum „auf Neurowissenschaft zu reduzieren.“

Nach jüngsten Analysen handelt es sich bei diesem Programm jedoch eher um das einer Eliminierung, nämlich die Beseitigung der philosophiegeschichtlich als Cartesianismus bekannten, historisch auf theologische Spekulationen zurück gehenden Zweisubstanzenlehre, allerdings mittels schlichter Begriffsakrobatik: durch Umbenennung des angeblichen Leib-Seele-Problems zum Gehirn-Geist-Problem und dessen Auflösung durch eine Art Gleichsetzung von Geist und Gehirn, indem ohne Rücksicht auf die umgangssprachliche Herkunft und von dort her eigentlich konstituierte Bedeutung psychologischer Rede diesem Organ schlicht all die geistigen oder psychischen Funktionen zugeschrieben werden, die wir üblicherweise uns selbst zuschreiben.

Der australische Neurophysiologe Max R. Bennett hat in Zusammenarbeit mit dem englischen Philosophen Peter M. S. Hacker in detaillierten Untersuchungen, die sie in ihrem großen lehrbuchartigen Werk Philosophical Foundations of Neuroscience (Oxford 2003) vorgelegt haben, nachgewiesen, dass auch in der englischsprachigen neurowissenschaftlichen Literatur und somit von Hirnforschern weltweit vom Gehirn so geredet wird, als wenn es sich bei diesem komplexen Neuronenensemble einem Homunkulus gleich um ein Wesen handelt, das wahrnimmt und erinnert, wertet und entscheidet, plant usw., und zwar bis in seine Subsysteme hinein, die denn auch miteinander kommunizieren und Informationen austauschen sollen! (NB: Das fast ein Halbtausend Seiten umfassende, optisch die argumentativen Hauptzüge geschickt herausstellende eng gedruckte Werk der Autoren ist wegen der umfangreichen kritischen Analysen psychologischer Begriffe und Ausdrucksweisen vor allem aus der Umgangssprache, aus der die auch von Wissenschaftlern gebrauchten psychologischen Termini stammen, für Psychologen weitaus relevanter als für Neurowissenschaftler, deren Theoriebildung endlos viele Konfusionen, Unsinnig- und Sinnlosigkeiten nachgewiesen werden: aus psychologischer Perspektive ist das Buch eine wahre Fundgrube von Anregungen – besonders für uns Psychotherapeuten, die wir in unserer Arbeit ganz auf die Umgangssprache angewiesen sind!)

Typisch für die heutige Neuro- und Kognitionswissenschaft ist demnach eine simple cerebrale Pseudopsychologie. Nach der konsequentesten Version davon konstruiert "das Gehirn" sogar wissenschaftliche Theorien und schafft sich – so die verstiegenste, dem philosophischen Solipsismus analoge Spekulation bzw. Konstruktion, nach der alle Grundprobleme der sensualistischen Erkenntnistheorie fröhliche Urstände zu feiern scheinen – „das Gehirn [sogar] seine Wirklichkeit“ mit der kabarettreifen Pointe, dass der Vertreter dieser Theorie sich selbst denn auch seinerseits in vollem Ernst zu einem Konstrukt seines Gehirns erklärt hat!

Auf derart fragwürdiger Grundlage spekulieren Hirnforscher mittlerweile auch ohne besondere Kompetenz über nahezu alles bis hin zur Rechtswissenschaft, Architektur und Politik, vor allem aber über philosophische Grundfragen und Begriffe sowie sämtliche psychologische Grundthemen bis hin zum Unbewussten einerseits und unserem Handeln andererseits.

Am bekanntesten dürfte geworden sein, dass besonders forsche Hirnforscher aufgrund von – deterministisch gedeuteten! – korrelationsanalytisch gewonnenen Befunden aus neurophysiologischen Untersuchungen von Willkürbewegungen wider jede Logik behaupten, Hirnforschung habe nunmehr empirisch die Nichtexistenz von Willensfreiheit wenn nicht bewiesen, so zumindest wissenschaftlich plausibel gemacht, nachdem sie seit der griechischen Antike und in der Folge immer mal wieder in verschiedenen Formen – besonders gern von philosophierenden Naturwissenschaftlern – bislang nur aufgrund eines prinzipiellen oder ideologischen, philosophisch mal "ontologisch", mal "metaphysisch" genannten und der Welt als ganzer spekulativ unterstellten Determinismus in Abrede gestellt werden konnte, der Willensfreiheit lediglich per definitionem, also rein logisch ausschließt. Eine besondere Pointe liegt darin, dass sich Hirnforscher aller Erfahrungen und Überzeugungen, die dieser fragwürdigen Metaphysik entgegenstehen, statt wie erforderlich logisch interessanterweise psychologisch zu entledigen suchen: indem sie diese nach der bekannten Devise, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, einfach zu Illusionen "erklären".

Wirklicher psychologischer Sachverstand ermöglicht jedoch ohne größeren Aufwand klarzumachen, was mit der umgangssprachlichen Bezeichnung "Willensfreiheit" bezeichnet oder gemeint wird. Willens-, Entscheidungs- und Wahlfreiheit beruht nämlich auf unserer Denkfähigkeit, unserer von Dichtern besungenen vielzitierten Gedankenfreiheit. Denken wiederum beruht auf unserem Erinnerungsvermögen, das in nichts anderem besteht als in der Fähigkeit, etwas zu wiederholen.

Erinnern ist eine Aktivität; "Erinnerungen" sind deswegen bestimmte Einzelaktivitäten. (Diese führen wir mit dem Gehirn aus, nicht in ihm, wo sie von Hirnforschern meist gesucht werden...) Erinnern besteht darin, sich ehemalige Wahrnehmungen erneut zu "vergegenwärtigen" oder "vorzustellen", wie umgangssprachlich gesagt wird, oder terminologisch: sie zu imitieren (nach Dirk Hartmann „Philosophische Grundprobleme der Psychologie“, Darmstadt 1998).

Damit sind wir fähig, in irgendwelchen Zusammenhängen einmal Erlebtes zu einem anderen Zeitpunkt und damit auch immer in anderen Umständen zu wiederholen, und zwar entweder auf andere (wenn auch vielleicht ähnliche oder "gleiche", weil sich gleichende...) aktuelle Anregungen hin oder aber ohne solche und somit "von selbst", und das immer wieder: einfach dadurch, dass wir von uns aus "daran denken". (Von daher stammt die Bezeichnung "Gedächtnis" für unsere Erinnerungsfähigkeit.)

Dies heißt nichts anderes, als dass wir "in der Vorstellung" bzw. "in Gedanken" oder "im Denken", wie sinngleich für "denkend" umgangssprachlich auch gesagt werden kann, von den ursprünglichen Zusammenhängen, in dem das einstmals Erlebte stand, unabhängig sind. Genau das ist die Bedeutung von "frei": frei von...

Das nun ermöglicht alles, was zu unserem zentralsten Aufgabengebiet als Psychologen und Psychotherapeuten gehört: ein von "realen" Bedingungen mehr oder weniger unbeeinflusstes, ungehindertes oder freies und damit vor allem auch selbstbestimmtes gedankliches Umgehen mit Einzelheiten ehemaliger Wahrnehmungen.

Folgen davon können u.v.a. Erinnerungstäuschungen sein, die auf unbemerkten oder "unbewussten" Veränderungen von Einzelheiten oder Zusammenhängen bei der spontanen Wiederholung ehemaliger Wahrnehmungen beruhen. Erst recht sind auch mehr oder weniger weit gehende kreative Neukombinationen von Erinnerungselementen möglich: jedermann kennt solche aus Tag- und Nachtträumen, manche auch aus Visionen oder Gesichten bis hin zu halluzinatorischen Erlebnissen verschiedenster Provenienz oder als harmlose Gedankenspiele oder Phantasien, vor allem aber aus eigenem Überlegen oder künstlerischem Gestalten aller Art. Es sind Erfahrungen dieser Art, die "empirische Grundlage" sind für unser Wissen um eine grenzenlose Freiheit im Denken und Imaginieren.

Bewusst genutzte Gedankenfreiheit ermöglicht nun Wahlfreiheit. Sie schaffen wir uns, indem wir uns in einem realen Erlebniszusammenhang etwas zu dem momentan Erlebten hinzudenken: vielleicht nur durch einfache Erinnerung an Reaktionsoder Handlungsweisen, die uns aus früheren Erlebnissen bekannt sind, oder durch "Er-Kennen" oder "Er-Finden" einer neuartigen Reaktionsweise. (Momentane Situationen können dann daraufhin geprüft werden, ob und welche Reaktionsweise "möglich" ist und zudem, ob eine davon und ggf. welche eher das zu erreichen erlauben würde, was man "ins Auge gefasst" hat, als die spontane Reaktion, zu der man sich durch einen ersten reflektorisch zustande gekommenen ideomotorischen Impuls "intuitiv" angeregt erlebt). Mit anderen Worten: durch ein Ausdenken von Alternativen schaffen wir uns "geistig" oder "in der Vorstellung" Wahlmöglichkeiten.

Wahlfreiheit hat allerdings Konsequenzen: sie und erst sie führt dazu, sich entscheiden und damit auf eine der in Erwägung gezogenen Alternativen festlegen zu müssen. Gleichwohl bleiben selbst einmal – mehr oder weniger überlegt oder willkürlich ... – getroffene Entscheidungen jederzeit revidierbar. Insofern verfügen wir, solange wir denken können, immer auch über Entscheidungsfreiheit, auch wenn diese sich nicht selten in "Willkür" manifestiert.

Wie es über all dies zur Rede von der Freiheit des Wollens oder "Willens" als bloß sprachlicher Hinweis darauf, sich entschieden z u h a b e n, gekommen ist, wobei "wollen" interessanterweise etymologisch mit "wählen" verwandt ist, aber auch mit "wohl" und "Wolf" und vielleicht sogar "Wolle", wäre eigene Überlegungen wert. Nur auf ein traditionelles Missverständnis sei abschließend noch hingewiesen: es liefe auf einen naiven Begriffsrealismus hinaus (um den es real eigentlich geht, auch bei der Auffassung von vielen anderen Begriffen wie etwa "Geist"...), wegen der rein sprachlich möglichen Ausdrucksweise "dies ist mein Wille" oder "ich habe den Willen" für den schlichteren verbalen Ausdruck "ich will" anzunehmen, es gäbe "etwas" („für sich Seiendes“...), das als "Wille" bezeichnet werden könnte, der uns überdies auch noch von sich aus bewegen würde, irgendetwas zu tun! Es "gibt" nur uns Menschen, die etwas mehr oder weniger überlegt wollen – und sprachliche Ausdrücke, uns darüber zu verständigen.

 



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