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Sprache / Wörtermarkt / Favoriten / Davon ausgehen - Übersicht / Die Ausgeh-Seuche
 

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Die „Ausgeh"-Seuche

Von Politikern als Sprechblase verbreitet wird die Floskel „davon ausgehen“ täglich nachgeplappert.

Gefahren, Gifte, Feuer ….
Seit Urzeiten gehen sie aus: Gefahren, Kriege, Gewalt, Gifte, Feuer, Strahlungen, Gerüche, Stimmungen, Gerüchte, - oft zum Schaden von Mensch und Umwelt. Nun sind es seit geraumer Zeit sogar Menschen, die ausgehen und bewirken, dass von ihnen sprachlicher Müll ausgeht. Ausgegangen wird von allem Möglichen und Unsinnigem.

Wörterbücher
Was sagen die Wörterbücher zu dieser an sich bekannten und in bestimmten Fällen aussagkräftigen Redewendung?
Etwas als Ausgangspunkt haben. Etwas als Grundlage nehmen.

Sprachgebrauch
Im aktuellen Sprachgebrauch wird die Floskel ständig als Ersatz für eine Vielzahl von Verben und Ausdrücken missbraucht, vorwiegend anstatt „annehmen“. Weitere:

befürchten, betragen, damit rechnen, daraus schließen, denken, der Ansicht sein, die Meinung vertreten, den Eindruck gewonnen haben, erbitten, erwarten, feststellen, folgern, für wahrscheinlich halten, glauben, handeln in der Erwartung, hoffen, in Erwägung (Betracht) ziehen, meinen, mutmaßen, sagen, schätzen, sich verlassen auf, sicher sein, so handeln, als ob, unterstellen, vertrauen auf, vermuten, voraussetzen, wissen, zugrunde legen.


Der Missbrauch der Redewendung besteht nicht nur in der Vereinfachung des Wortsinns, sondern auch in der wahrheitswidrigen Mitteilung. Wer vorgibt, von einem Sachverhalt auszugehen, erweckt den Eindruck, dieser Sachverhalt sei eine ihm bekannte Realität. Das ist er regelmäßig nicht. Es handelt sich meistens um eine Vermutung. Auch andere Deutungen sind möglich. Dem Empfänger der Nachricht (Leser oder Zuhörer) bleibt es überlassen herauszufinden, was gemeint ist. Die Täuschung der Allgemeinheit ist perfekt. Sie ist bereits daran erkennbar, dass keine Folgerung aus der Feststellung (Mitteilung) gezogen wird.

Start - Ziel
Zum Vergleich. Wenn ein Wanderer zu seiner Wanderung aufbricht, dann geht er von einem konkreten Ausgangs(Start)punkt aus und strebt das geplante Ziel an. Gedankliches Ausgehen bedeutet analog, eine Tatsache als Ausgangs(Start)-Punkt für Überlegungen zu benutzen, die die Grundlage für mehr oder weniger logische Folgerungen (Ziel) sind.

Die Ausgehgesellschaft
Zur Ausgehgesellschaft gehören inzwischen jeder deutsch sprechende Bürger und alles, worüber öffentlich berichtet wird: Behörden, Institutionen, Regierungen, Parteien, die Polizei, die Justiz, Anwälte, Vereine, Banken, Firmen, Gemeinschaften, Institute usw. Und was völlig absurd ist, sogar Schätzungen, Vorhersagen, Beurteilungen und Berichte aller Art „gehen aus“. Meistens behaupten dies gerade diejenigen, die selbst ständig ausgehen, von was auch immer.

Mangelerscheinung des Gehirns
Das moderne gedankliche Ausgehen offenbart eine Mangelerscheinung des Gehirns. Die Synapsen und Neuronen arbeiten im Sparmodus, bei vielen Sprachverhunzern  der Normalzustand. Er garantiert vieldeutiges Schwammdeutsch, mit dem jede Information als unklarer und vieldeutiger Gedankenbrei übermittelt wird.

Sprechblase der Politiker
Politikern kam diese Sprechblase ihrem Bestreben entgegen, sich nicht festzulegen nach der Devise: Reden ohne etwas Konkretes zu sagen. Schnell war die Floskel „salontauglich“ und geeignet für die Umgangssprache. Ihr täglicher Gebrauch beweist sprachliche Aktualität. Unarten werden immer eher übernommen, als das Anerkannte. Das gilt auch für die Sprache.

Der Duden hilft
Der bedeutende Nebeneffekt, die Unwahrheit zu verbreiten, wird übersehen, sogar vom Duden. Der musste diese Sprechblase natürlich umgehend im neuen Wörterbuch aufnehmen, womit er traditionsgemäß für die Verfestigung im Sprachgebrauch sorgt. Seine bisher zutreffenden Erläuterungen zu „Ausgehen“ hat er verwässert und das am häufigsten benutzte Ersatzverb „annehmen“ sowie „überzeugt sein“ als Synonyme für „davon ausgehen“ anerkannt. Das meistens treffende Verb „annehmen“ (neben vielen anderen, je nach Sachverhalt) ist inzwischen zum „Verb für besondere Fälle“ degradiert, eine Vorstufe zur Aufnahme im Kreis der „ausgestorbenen Wörter“. 

Der Wandel der Sprache oder sprachlicher Rückschritt?
Die Ausgeher berufen sich auf den Wandel der Sprache. Sie verwechseln Wandel mit Beschränkung (Nivellierung). Es ist zwar bequem, einen Sammelbegriff für eine Vielzahl von sinnstiftenden Begriffen zu verwenden. Die Vereinfachung der Aussage verringert die Verständlichkeit und Klarheit des Mitzuteilenden. Eine Bereicherung der Sprache ist das nicht, allenfalls eine Verarmung. Vergleichsweise würde man mit dem Eigenschaftswort „bunt“ alle Farben ersetzen.

„Ausgeh“-Beispiel aus der Praxis:
… „Sein Anwalt geht ebenso wie der Anwalt (Ömer Aycan) des von Marco angeblich bedrängten britischen Mädchens Charlotte davon aus, dass es kein Urteil geben wird.“ ... (AFP in SZ vom 1.4.2008)

Die Anwälte nehmen es an, vermuten es, glauben es, aber sie wissen es nicht, sie können es im voraus nicht wissen. Selbst dann, wenn es hieße, die Anwälte würden von der Annahme ausgehen, dass es kein Urteil gäbe, fehlt die Folgerung aus der Annahme.

Ulrich Werner



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