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Gehirn - Geist / Artikel Singer / Einleit. Vorbem.
 

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Einleitende Vorbemerkungen
 zum offenen Brief an Wolf Singer

 

Der 'Offene Brief' wurde am 30. April 2004 an Prof. Dr. med. Wolf Singer, Leiter der Neurophysiologischen Abteilung des Max Planck Instituts für Hirnforschung in Frankfurt geschickt sowie nachrichtlich u.a. an die Redaktion der F.A.Z. Form und Inhalt entsprechen der ursprünglichen Fassung des per Mail versandten Schreibens. Sprachlich habe ich den Text leicht überarbeitet. Sinnvoll erschien eine Aktualisierung vor allem des Anmerkungsapparats. Ich habe die Gelegenheit genutzt, ihn erheblich zu erweitern, vor allem durch Hinweise auf solche Veröffentlichungen, die von besonders sachkundigen Verfassern erfreulicherweise in immer größerer Anzahl ins Internet gestellt werden.

Ich hoffe damit beitragen zu können, sich die bemerkenswerten oder besser gesagt ausgesprochen merk-'würdigen' Eigenheiten der öffentlichen Debatte um angebliche oder tatsächliche 'Ergebnisse' der Hirnforschung zu erarbeiten. Nur dann nämlich wird ersichtlich, dass in dieser 'Öffentlichkeit' die reale wissenschaftliche Diskussion leider nicht immer ausgewogen dargestellt und differenziert vermittelt wird.

Beobachtern der Debatte wird ohnedies aufgefallen sein, dass in ihr überwiegend einige wenige Wissenschaftler und diese fast überall präsent sind. Es handelt sich dabei vornehmlich um solche, die wie der Angeschriebene besonders zugespitzte Thesen vertreten, radikal aussehende Forderungen erheben und gelegentlich sogar dramatisch klingende Prophezeiungen abgeben. Die besondere Pointe dabei ist, dies sie dies gerade in Fragen und Angelegenheiten tun, die gar nicht ihr eigenes Fachgebiet betreffen, sondern - teilweise weit - darüber hinausgehen.

Wie moderne Universalwissenschaftler äußern sich zu städtebaulichen, politischen und grundlegenden juristischen sowie pädagogischen Fragen, vor allem aber zu psychologisch hochkomplexen Angelegenheiten. Interessanterweise haben sich hierzu bisher kaum Hochschullehrer aus der Psychologie geäußert - vielleicht deswegen, weil dezentes Schweigen die beste Antwort ist auf Behauptungen, mit denen Neurobiologen zentrale psychologische Tatsachen platt zu Illusionen erklären.

Auch ist ein gewisses Doppelspiel zu beobachten. Die hierzulande Aufmerksamkeit findenden Wissenschaftler, insbesondere zwei ihrer Exponenten werden vornehmlich als Exponenten 'der' Hirnforschung angesprochen. Sie selbst treten gemeinhin auch so auf. Dass sie tatsächlich lediglich Angehörige einer Gruppe von Forschern sind, die eine zwar sehr bestimmte, aber keineswegs auch von allen anderen akzeptierte Deutung der Daten vertreten, die mit den heute in der Hirnforschung zum Einsatz kommenden Registriertechniken gewonnen werden, kommt dabei eher am Rande, wenn überhaupt zum Ausdruck.

Dem entspricht, dass der Öffentlichkeit 'Ergebnisse' der Hirnforschung ungeachtet der realen Fachdiskussion nicht selten so präsentiert werden, als würden sie (bereits) absolut fest stehen. Selbst akademisch Gebildete beachten dabei nicht immer, dass neurowissenschaftliche Behauptungen wie alle wissenschaftlichen Aussagen 'relativ' sind. Sie gelten stets nur 'im Licht' ihrer jeweiligen Voraussetzungen, auf die sie bezogen werden. So können sie daher auch nie besser sein als diese. Rohdaten einer Forschung erhalten ihre Bedeutung erst im Licht einer vorgängigen Theorie oder im Rahmen eines Modells - nicht von selbst, sondern selbstverständlich von den jeweiligen Wissenschaftlern. Als Interpreten eigener Arbeit vertreten auch erfahrene Wissenschaftler insoweit erst einmal persönliche, individuelle Auffassungen und Meinungen.

Ungleich gravierender aber ist die Tatsache, dass nach meiner Beobachtung eine der fundamentalsten Voraussetzungen wissenschaftlicher Meinungsbildung bei der hierzulande geführten Hirndebatte bisher noch kaum Beachtung gefunden, geschweige denn eingehendere Diskussion erfahren hat: die Sprache, d. h. die Begrifflichkeit, in der sich Neurowissenschaftler weithin ausdrücken. Denn es scheint bisher selten die sprachliche 'Übertragung' aufgefallen oder problematisch geworden zu sein, die nachgerade ein durchgehender Zug bei ihnen ist. Hirnforscher wenden nämlich einfach die Ausdrücke, die wir gewöhnlich für uns selbst - als die Menschen, die wir sind - gebrauchen, 'einfach' auf das Gehirn an und sprechen von diesem Organ wie von einem Menschen.

Eigentlich handelt es sich dabei um eine an sich harmlose Art abkürzender Redeweise. Solche haben in der Medizin lange Tradition. Eine der geläufigsten ist die Ausdrucksweise, nach der Ärzte Krankheiten behandeln statt kranke Menschen. Nach dem gleichen Strickmuster wird im medizinischen Alltag wie selbstverständlich auch davon gesprochen, dass der Bauch geröntgt, der Darm operiert wird und dergleichen mehr. In Bezug auf unser 'Denkorgan' ist ein derart saloppes Gerede jedoch keineswegs genauso harmlos und vor allem auch nicht ebenso durchsichtig.

Die übliche und sachlich allein zutreffende Redeweise, dass wir 'mit' unserem Hirn denken wie wir 'mit' der Faust drohen oder 'mit' unseren Beinen gehen, wird nämlich entstellt, wenn von der sprachlichen Konstruktion ausgegangen wird, entsprechend der 'das Gehirn denkt', was wir denken. Es kennzeichnet den Ausbildungsgrad der allgemeinen Sprachsensibilität, wenn diese Verdoppelung nicht nur nicht weiter auffällt, sondern der zweite Teil, der Bezug auf uns selbst einfach übergangen und damit recht besehen unterschlagen werden kann. Erst recht spricht es Bände, wenn diese nachlässige, wenn nicht gedankenlose Sprechweise lange nicht so absurd empfunden wie die exakt auf dieselbe Weise gebildete Rede, nach der eine Faust droht oder unsere Beine gehen.

Bei noch größerer Unachtsamkeit kann sogar der Anschein, ja das Missverständnis aufkommen, es sei denn auch 'eigentlich' das Gehirn, das denkt. Während aber eine Wendung wie die, nach der 'unsere Beine uns tragen', oder ein Ausdruck wie jener von einer 'drohenden Faust' sofort als mehr oder weniger poetische Metapher durchschaut wird, hat es den Anschein, als fehlte Hirnforschern das Bewusstsein für die eigenen kreativen Sprachschöpfungen. Nicht wenige von ihnen nehmen offenbar unbedenklich an, dass die Redeweise, nach der das Gehirn für uns oder vielleicht sogar statt unserer denkt, auch der Realität entspreche.

Anders ist nicht zu erklären, wenn daraus der Schluss gezogen wird, wir würden uns in der Annahme täuschen, selbst zu denken, es also Illusion sei, zu denken, selbst zu denken. Die extremste Überspitzung hat diese Denkweise in der These eines bekannten Neurobiologen gefunden, das Gehirn konstruiere oder schaffe nachgerade alles: die "Wirklichkeit, in der ein Ich existiert, das sich als Subjekt seiner mentalen Akte, Wahrnehmungen und Handlungen erlebt, eine Körper besitzt und einer Außenwelt gegenübersteht"; konsequenterweise hat er sogar sich selbst als von seinem Gehirn 'hervorgebracht' erklärt und behauptet: "ich bin selbst ein Konstrukt."[01]

Eine der harmloseren Folgen derart 'durcheinander' gehenden Geredes oder begrifflichen Denkens ist die von Journalisten gerne zur Formulierung reizvoller Titel und provokanter Schlagzeilen verwendete Redeweise, nach der mit der Untersuchung von Hirnvorgängen beispielsweise Denkvorgänge beobachten würden. Hirnforscher werden dann schon mal als 'Denker des Denkens' bezeichnet oder ihre Untersuchungen als 'Zuschauen beim Denken' hingestellt. Durch derart undifferenzierte Ausdrucksweise kann die Befürchtung aufkommen, Hirnforscher könnten irgendwann vielleicht sogar 'Gedanken lesen'.

Allerdings ist nicht immer klar, wie ernst oder spielerisch derartige Gleichsetzungen von Denken und Neuronenaktivitäten gemeint und zu nehmen sind. Wörtlich wird sie nur jemand auffassen, der neben wenig ausgeprägter Sprachsensibilität sich auch wenig geübt hat, die Bedeutung von Begriffen exakt zu erfassen, und zu verfolgen, ob diese immer gewahrt bleibt. Besonders werden aber alle diejenigen dazu neigen, die von klein auf an eine leider sehr, um nicht zu sagen extrem verbreitete Wortgläubigkeit gewöhnt sind, die sprachphilosophisch als Begriffrealismus bekannt ist. Sie besteht darin, etwas für wirklich zu nehmen, weil es - 'dafür' - ein Wort gibt oder 'es' sogar geschrieben steht...

Im Extremfall kann es dabei zu der Vorstellung kommen, im Gehirn das Eigentliche des Menschen oder eine Art 'Mensch im Menschen' zusehen, einen Homunkulus nach Art des Gemunkels von mittelalterlichen Alchimisten. Ich erwähne diese verstiegene Phantasie deswegen, weil sie logisch gesehen exakt dem Glauben gleicht, gemäß dem es ein oder unser 'Geist' sein soll, der in uns Menschen wirkt, eine Denkvoraussetzung, die historisch gesehen vor und nach Descartes viele Menschen gemacht haben und heute noch - gelegentlich sogar in der Wissenschaft - machen. Das Gehirn als der Instanz anzusehen, die all das tut, was normalerweise jeder meint, selbst zu tun, beruht also auf einer uralten und dementsprechend auch noch in vielen anderen Denksystemen üblichen Denkfigur. Sie hat historisch zu der Auffassung geführt, leiblich seien wir Maschinen, und zu dem Ausdruck vom 'Geist in der Maschine'.

Diese historischen Hintergründe und vor allem die zahlreichen Folgen dieser Denkfigur sind vor kurzem von dem australischen Neurophysiologen Max R. Bennett in Zusammenarbeit mit dem begriffsanalytisch versierten Oxforder Philosophen Peter M. S. Hacker umfassend untersucht worden. Ihre Ergebnisse, die fast ein Halbtausend eng gedruckter Seiten eines großen Lehrbuches füllen (s.u. Anm. 6), sind je nach Gesichtspunkt eigentlich schockierend oder aber peinlich. Danach wimmelt es nämlich in den Neurowissenschaften bis hinein in die neumodische Neurophilosophie nur so von begrifflichen Unschärfen, unsinnigen Sprachkonstruktionen oder regelrechten Denkfehlern.

Es dürfte daher mehr als ratsam sein, die von wem und mit welchen Motiven auch immer begonnene und unterhaltene 'Hirndebatte' hierzulande aufmerksam und umsichtig zu beobachten und dabei höchst kritisch zu verfolgen. Dies ist besonders deswegen vonnöten, weil dabei für unser 'Selbstbild' oder besser gesagt Selbstverständnis zentralste Überzeugungen - interessanterweise aus wahlweise 'prinzipiellen' oder 'empirischen' Gründen - nicht nur in Frage, sondern geradewegs in Abrede gestellt werden. In erster Linie ist dies diejenige, die auf dem Erleben beruht, in bemerkenswert weitem Ausmaß tun zu können, was man sich ausgedacht und dann vorgenommen hat, 'in die Tat' umsetzen zu wollen. Mit dem Thema Willensfreiheit werden damit alle uns wichtigen Themen wie Gedankenfreiheit, Wahl- und Entscheidungsfreiheit bis hin zur Handlungsfreiheit zur Disposition oder wenigstens zur Diskussion gestellt.

Erstaunlicherweise geht der von diesen Naturwissenschaftlern angezettelte Streit jedoch gar nicht darum, wie und wie weit wir neben anderem wie reflexhaftem, spontanem und gewohnheitsmäßigem Reagieren auch zu überlegtem und 'rücksichtsvollem' Handeln fähig sind, das wir von mehr oder weniger weit gehenden Überlegungen und abgewogenen Entscheidungen abhängig machen und auf uns wichtige Gesichtspunkte, Zwecke oder Ziele ausrichten können. Statt diese besondere Fähigkeit von uns, unser bewusstes Wollen und dessen Eigenarten adäquat zu untersuchen und zu analysieren, wie man dies von Erfahrungswissenschaftlern erwarten würde, dreht sich die momentane Auseinandersetzung nach meinem Überblick praktisch ausschließlich um 'Konzepte'. Und damit wird die Hirndebatte für den Uninformierten völlig undurchsichtig.

Denn was wissenschaftliche 'Konzeptualisierungen' sind - nicht selten ad hoc oder zu bestimmten Zwecken vorgenommene, aber auch aus irgendeiner Denktradition (oft der Philosophie) stammende Definitionen, sprachliche Konstruktionen mehr oder weniger zweckmäßiger Art oder 'Modellvorstellungen' - welche es davon alles gibt und wie ihre spezifischen Eigenarten jeweils sind, weiß der Normalleser und Normalmensch gar nicht mehr und der akademisch gebildete ausreichend auch nur, wenn er sich genügend Kenntnisse in formaler Logik und Sprachanalyse angeeignet oder sonstige 'philosophische' Kenntnisse erworben hat. Nach meiner Kenntnis der Debatte greifen die in Rede stehenden Hirnforscher nämlich mit dem Konzept von Willensfreiheit, das einer davon "die 'starke' Annahme der Existenz von Willensfreiheit" genannt hat(02) und von der er behauptet, von ihr würden neben anderen vor allem alle die Menschen ausgehen, die alltagspsychologisch dächten, also alle, die ganz normal denken, eine Vorstellung von Willensfreiheit an, die nach meiner Kenntnis überhaupt niemand hat, jedenfalls kein Normalmensch (s.u. die Hinweise unter WF). -

Die Dimensionen und Facetten der Hirndebatte sind also äußerst differenziert und reichen bis ins sog. 'Grundsätzliche'. Um keine falschen Erwartungen zu erwecken, will ich nach all diesen Hinweisen klarstellen, dass die 'Reichweite' des nachstehend wiedergegebenen Brieftextes dem gegenüber nur einen einzigen Aspekt zum Thema hat, also eng begrenzt ist. Zudem sind die Ausführungen rein kritischer Art und der Formulierung nach auch noch durchgehend negativ; dem kritischen Leser wird nicht entgehen warum. (In den Anmerkungen habe ich deswegen vor allem Hinweise auf Arbeiten zusammengestellt, in denen auch die anderen Aspekte thematisiert werden.)

Ich habe der Onlinestellung meines Offenen Briefes hier zugestimmt in der Überzeugung, dass es sinnvoll ist, auch öffentlich vor den Folgen einer weiteren grundlegenden Voraussetzung der Theoriebildung unter Hirnforschern zu warnen: denjenigen eines wissenschaftlich nicht gedeckten, sog. "prinzipiellen Determinismus". Realiter ist es nämlich eigentlich diese Annahme, die in der gesamten Hirndebatte zur Diskussion steht; ohne sie fallen über rein hirnphysiologische Feststellungen hinausgehende Behauptungen von Hirnforschern in sich zusammen. Sie erhalten nur den Anschein einer Fundierung, wenn Hirnforschern ihre "Korrelationsanalysen" nicht strikt als eben (zeitliche) Korrelationen, sondern als 'kausale Zusammenhänge' interpretieren, und der methodische Determinismus, der naturwissenschaftliches Forschen 'definiert' und gelegentlich auch als methodologischer Monismus bezeichnet wird, von ihnen zu einem sog. ontologischen oder metaphysischen Determinismus überhöht wird.

Methodenbewusste Naturwissenschaftler legen ihrer Arbeit das sog. 'Kausalprinzip' zugrunde. Es handelt sich dabei um eine Art Suchanleitung: solche Umstände ausfindig und 'dingfest zu machen', deren Vorhandensein - oder Herstellung (in einer dann 'Experiment' genannten Situation) - notwendig ist, um mit hinreichend großer Häufigkeit (mathematisch 'Wahrscheinlichkeit') feststellen zu können, dass auf genau diese - dann 'Bedingungen' genannten - Umstände und nur wegen ihnen bestimmte Ereignisse folgen.

Der ontologischen oder metaphysischen Determinismus beruht dem gegenüber auf der Annahme, für alle Vorgänge in der Welt ließen sich bei hinreichend langer Suche immer Bedingungen oder Bedingungskonstellationen mit immer denselben 'Folgen' finden. Ersichtlich ist eine derartige Erwartung ein ungedeckter Scheck auf eine unbestimmte Zukunft. Ihm entspricht eine Überdehnung des Kausalprinzips zu einem universell geltenden Kausalgesetz, das der ganzen Welt oder Wirklichkeit als zugrunde liegend gedacht wird; es kann auch nur gedacht werden, da niemand 'die Welt', d. h. die gesamte Wirklichkeit real überblickt. Die Annahme der Geltung 'des Kausalgesetzes' ist also sachlich lediglich eine beliebige Denkvoraussetzung; von ihr auszugehen ist darüber hinaus zwar auch noch sehr beliebt, aber faktisch bis heute nicht eigentlich 'begründet', sondern nur: ebenso praktisch wie willkürlich.

Als Annahme über 'die Welt als ganzes' hat sie allerdings eine auffällige Eigenart. Sie ähnelt wieder einer wohlbekannten Denkfigur! Aussagen über die Welt als ganzes zu machen ist nur auf der Grundlage der Vorstellung möglich, dass jemand diese Welt überblickt wie in religiösen Glaubenssystemen 'Gott'... In der philosophischen Tradition werden Behauptungen auf einer derartigen Basis nicht religiös, sondern 'ontologisch' oder 'metaphysisch' genannt. Metaphysik ist deswegen auch keine 'Wissenschaft', sondern ein dem religiösen gleicher Glaube. Metaphysik umgekehrt als Wissenschaft oder gar als Naturwissenschaft auszugeben wäre dagegen schlichte Irreführung, Selbsttäuschung oder beides.

Es ist nun aber just diese Art von Denken, das der Angeschriebene mit anderen in der Öffentlichkeit seit langem und unbeugsam, ja geradezu unerbittlich vertritt, und zwar als erstes mit sich selbst. Da er sich hierzu öffentlich freimütig geäußert hat, lassen sich die persönlichen Folgen seines vorgeblich 'wissenschaftlichen' Denkens anhand seiner eigenen Aussagen angeben.

Im Unterschied zu seinem öffentlichen Auftreten als Wissenschaftler denkt und reagiert er nämlich nach gelegentlich von ihm eingestreuten Hinweisen in seinen vielen Interviews privat anders und nach seiner Schilderung seines Umgangs mit z.B. seinen Kindern (s. das in Anm. 2 genannte Gespräch S. 33) offenbar auch völlig 'normal'. Normal ist es auch dazu zu sagen, hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Überzeugungen sei er halt inkonsequent und denke dazu widersprüchlich. Selbstwidersprüchlichkeit hat Singer tatsächlich auch eingestanden.

Bemerkenswerterweise ist sogar seine Reaktion darauf ganz normal. Er geht mit seinem Selbstwiderspruch nämlich genauso um, wie die meisten Menschen damit umgehen, jedenfalls solange, wie die sich daraus ergebenden Konflikte nicht unerträglich werden: durch Hinnehmen und 'Aushalten', wie er dort im Hinblick auf derartige Konflikte selbst sagt. Praktisch gesehen bedeutet dies, dass er wie viele andere auch schlicht abwartet und seine Selbstwidersprüchlichkeit auf sich beruhen lässt, statt wie bei einem Wissenschaftler zu erwarten ihre Herkunft zu 'analysieren', ihre Grundlagen aufzudecken und nach Möglichkeiten zu suchen sie aufzulösen. Eigenartig mutet nur an, dass der im katholischen Bayern aufgewachsene Forscher angibt, deswegen in "unterschiedlichen Erfahrungswelten" zu leben. ('Normal' ist die Unterscheidung der realen Erfahrungswelt von der so genannten Vorstellungs- oder Gedankenwelt.) Als studierter Arzt stellt er sich sogar eine Art Selbstdiagnose, wenn er angibt, er lebe "gewissermaßen als dissoziierte Person"...

Singer geht jedoch seit langem sehr viel weiter. Und damit überschreitet er entschieden eine allgemeine Grenze. Was er in persönlichem Zusammenhang erlebt und auch so formuliert, stellt er nämlich als allgemeinere Angelegenheit dar und behauptet: "diesen Konflikt zwischen zwei Erfahrungswelten, den müssen wir aushalten." Etwas, womit man persönlich seine liebe Not hat, so darzustellen, als hätten oder müssten andere sie auch haben und sogar dasselbe tun wie man selbst, ist eine gewagte Generalisierung und wäre unter gesundheitspolitischen Gesichtspunkten ausgesprochen bedenklich. Im Falle der zitierten Aussage ist allerdings nicht ganz eindeutig, wer mit 'wir' gemeint ist oder sein könnte, wenn auch nach seinem gesamten Duktus anzunehmen ist, dass er uns 'alle' meint: Wir alle sollen offenbar handeln wie er, und zwar weil er von seiner selbstwidersprüchlichen Auffassung trotz ihrer Folgen überzeugt und vollständig eingenommen oder sogar auf sie 'festgelegt' ist - weil sie angeblich wissenschaftlich sei.

In erster Linie wird Singer sicher diejenigen Wissenschaftler gemeint haben, die genauso denken wie er: wenn sie nämlich von denselben Annahmen ausgehen, sind sie aus logischen Gründen gehalten, zu denselben Auffassungen und Konsequenzen zu kommen wie er. Darüber hinaus wird aber allenfalls umgekehrt ein Schuh draus: alle, die auf dieselbe Weise wie er nach eigener Formulierung "reflexhaft" persönliche Gewohnheiten ausleben und dazu in Widerspruch stehende Einstellungen und Überzeugungen pflegen, müssen eventuelle Folgen 'aushalten'. Singer ist erfreulich ehrlich, wenn er deswegen öffentlich zugibt: "Für mich als Hirnforscher bedeutet das ein ständiges Problem."

Einen nun nicht mehr hinnehmbaren Schritt hat Singer aber Anfang 2004 mit einer Veröffentlichung in der F.A.Z. gemacht, wegen der ich dann aktiv geworden bin. Ich hatte sie eher zufällig auf seiner Website "Essays und Interviews" entdeckt, wo sie mir wegen ihres Titels auffiel und aufstieß. Denn er formulierte dort die Empfehlung:

"Wir sollten aufhören von Freiheit zu reden."

Pikant erschien dabei die Angabe, dass dieser auf den erstem Blick einem Redeverbot bzw. Schweigegebot erstaunlich ähnlich sehende Aufruf just von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht worden war. Seit Jahren wird in ihr zwar über Singer und seine Arbeit berichtet und er selbst immer wieder auch mit Interviews im Umfang von gelegentlich bis zu zwei vollen Druckseiten besonders herausstellt. Aber dass gerade Redakteure dieser renommierten Tageszeitung bereit gewesen waren, durch die Veröffentlichung eines Artikel mit der Titelzeile "Keiner kann anders, als er ist" und der weiteren Behauptung im Untertitel "Verschaltungen legen uns fest", die an Computer und andere von uns konstruierte elektrotechnische Geräte zu denken eher Anlass gibt als an uns selbst, dazu beizutragen, zum Ausschluss des Freiheitsthemas aus der öffentlichen Debatte in Deutschland aufzurufen, in dem die Alternative "Freiheit oder Sozialismus" mal einer der zugkräftigsten politischen Slogans war, war für mich ebenso erstaunlich wie beeindruckend.

Bemerkenswert ist weiterhin, was sich bei genauerer Prüfung herausstellte. Der in der F.A.Z. erschienene Text enthält nämlich Ausschnitte aus den letzten (auf der Website von Prof. Singer selbst vollständig online gestellten) Partien einer Arbeit, die wesentlich umfangreicher (sowie ebenfalls online abrufbar) ist und wenig später in einer philosophischen Fachzeitschrift erschien. Diese hat nun aber interessanterweise einen völlig anderen Titel! Auch im Text mutet Singer akademischen Kollegen nirgendwo das Ansinnen zu, mit dem er in der F.A.Z. die allgemeine Öffentlichkeit konfrontiert.

Nach dem heutigen Eintrag auf derselben Website sind Texte mit dem Titel des F.A.Z.-Beitrags mittlerweile auch noch an zwei weiteren Orten erschienen: a) in einem womöglich auch für die Allgemeinheit publizierten Sachbuch m.d.T. "Geist, Seele und Gehirn" und b) in einem Taschenbuch des Suhrkamp-Verlags m.d.T. "Hirnforschung und Willensfreiheit". In diesem Reader hat ein F.A.Z.-Redakteur die gesamten Beiträgen zu der Diskussion herausgegeben, die sehr entgegen dem Rat von Prof. Singer über Monate hin in der F.A.Z. just dazu geführt wurde. Anders als nach dieser Vorgeschichte zu erwarten enthält dieses handliche Büchl aus der Reihe 'edition suhrkamp' jedoch den kompletten akademischen Text aus dem genannten Fachjournal, aber mit einer bemerkenswerten Abwandlung. In dem wie üblich dazu angegebnen Drucknachweis fällt nämlich als kleiner Schönheitsfehler auf, dass dort von dem ursprünglichen F.A.Z.-Titel nur die sprachlich eigenartige Titelzeile "Keiner kann anders als er ist" angegeben wird. Der hier weggelassene ursprüngliche Untertitel wurde dagegen - mit einer unauffälligen kleinen Abwandlung - zum Titel des ursprünglich und wie erwähnt völlig anders überschriebenen Fachartikels gemacht und enthält dieses Mal offen wieder die Forderung "Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen".

Die Vervielfachung des Aufrufs von Singer ebenso wie die umfangreiche Diskussion dazu macht deutlich, was nach den psychologisch wohlbekannten Gesetzen der "paradoxen Intervention" - auf deren Basis seit langer Zeit mit einer wohlbekannten "Anleitung zum Unglücklichsein" exakt das Gegenteil zu fördern (und das Einkommen des Autors dieses Buches verdientermaßen zu vermehren) gesucht wird - zu erwarten war: in dem zentralsten und wichtigsten Punkt unseres Selbstverständnisses als Menschen, unserem Freiheitsbewusstsein, verpasst sich auch auf Vorschlag eines auf seinem Forschungsgebiet verdienstvollen und anerkannten Wissenschaftlers niemand selbst einen Maulkorb oder akzeptiert gar ein Denkverbot.

Es beginnt sich im Gegenteil eher abzuzeichnen, dass in dieser Debatte weiter reichendere psychologische Reflexionen nötig werden, die bisher höchstens soweit berücksichtigt wurden, wie sie mehr oder weniger adäquat in den bisher diskutierten 'Konzepten' vornehmlich philosophischen Ursprungs thematisiert wurden. Stattdessen sind nämlich die wirklichen Eigenarten unseres Wollens und die Umstände, von denen wir dabei real 'frei' sind oder sein können, zu klären und vielleicht auch zu diskutieren, wieweit jemand diese Freiheit individuell 'in der Tat' verwirklicht und verwirklichen kann. Dann würde die angestoßene Debatte tatsächlich erreichen, zu was sie beitragen sollte: zur allgemeinen Diskussion unseres Selbstverständnis. Sie könnte so auf längere Sicht sogar zur Förderung von Selbstbewusstsein beitragen.

Literatur und Fundstellen

 



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