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Verordnete Unordnung
Von einer Steinzeitreform und von Kultusministern, die als unbeholfene Frühstücksdirektoren handeln
Von Horst Haider Munske

Deutsche Sprachwelt Ausgabe 21 Herbst 2005

Horst Haider Munske, einst Reformer, jetzt  Kritiker der Rechtschreibreform

I. Beschädigtes Vertrauen in die Eindeutigkeit der Rechtschreibung

Brauchen wir eigentlich eine Rechtschreibreform? Kann man Sprachnormen wirklich reformieren? Und gibt es überhaupt eine Instanz im deutschen Sprachgebiet, die dazu fähig und dazu legitimiert wäre? Diese Fragen stellen sich erneut, nachdem die meisten deutschen Kultusminister Teile der neuen Schreibregeln zum 1. August für alle Schulen in Kraft gesetzt haben. Denn nach jüngster Allensbach-Umfrage ist der Widerstand unter den Deutschen gegen Reformexperimente mit der Sprache ungebrochen. Das spiegelt sich auch in den Entscheidungen der meisten großen Zeitungen und Buchverlage gegen die verordnete Orthographie der Kultusministerkonferenz (KMK).

Die Folgen dieses Nebeneinanders bisheriger, „reformierter", teilreformierter (Hausorthographien) und willkürlich gemischter Schreibungen sind verheerend. Die Einheit der deutschen Rechtschreibung ist dahin. Die wenigsten kennen sich noch aus und wissen, was gerade gilt. Was ist geblieben von der bisherigen vertrauten Rechtschreibung? Was hat die „Reform" von 1996 geändert? Was wurde davon inzwischen neureformiert? Was davon entspricht wiederum der bisherigen Schreibung? Noch verwickelter wird es in der schulischen Praxis: Was muß zum Beispiel ab dem neuen Schuljahr im Reich der brandenburgischen Kultusministerin als falsch geahndet werden, was wird nur als falsch angestrichen und wo gibt es Varianten zwischen alt und neu? Glücklich, wer in diesem Herbst mit seinen schulpflichtigen Kindern nach Bayern oder Nordrhein-Westfalen umzieht. Dort gilt noch die bisherige liberale Anerkennung von „alt" und „neu". Nur die Lehrer haben es überall gleich schwer mit dem, was sie unterrichten sollen.

Schlimmer aber noch als dieses verordnete Durcheinander sind die Langzeitfolgen für die Geltung orthographischer Normen. Das Vertrauen in die weitgehende Übereinstimmung von Sprachgefühl und Sprachnorm, in Eindeutigkeit und Richtigkeit der Rechtschreibung ist empfindlich beeinträchtigt. Die deutsche Schriftsprache - das war das überdachende, einigende Band der Kulturnation. Dessen waren sich die verantwortlichen Kulturpolitiker bewußt, als sie in die Präambel der Wiener Vereinbarung vom 1. Juli 1996 schrieben: „Sie [die einzurichtende Kommission für deutsche Rechtschreibung] wirkt auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum hin." Tatsächlich haben die Kommission und die Beamten der Kultusministerkonferenz das Gegenteil bewirkt.

II. Pyrrhus als Kultusminister

Warum, so fragen sich viele, die auch von Politikern vernünftiges Verhalten erwarten, warum richtet die KMK einen Rat für Rechtschreibung ein, folgt ihm in seinen ersten Empfehlungen zu dem umstrittensten Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung und erklärt dann: Das war's! Komma und Silbentrennung, die ja ohnehin meist fakultative (wahlfreie) Regeln enthalten, darf er noch behandeln. Der Rest sei „unstrittig". Fremdwortschreibung, groß und klein, Laut-Buchstaben-Beziehungen, also zum Beispiel Newage und Horror Vacui, heute Früh und seit Langem, schnäuzen und behände - das alles, worüber fast zehn Jahre gestritten wurde, das sei nun unstrittig und könne der Schule endgültig verordnet werden. Ist das ihr Umgang mit Sprache, Wörter in ihrem Gegensinn zu gebrauchen? So wie einst die DDR die Berliner Mauer als „Friedensgrenze" titulierte.

Warum düpiert die KMK den eigenen Rat und den von ihr empfohlenen Vor-sitzenden Hans Zehetmair? Erklärungen gibt sie nicht, aber plausible Vermutungen. Nach meinen Erfahrungen im Umgang mit der KMK war es dies: Sie sah mit den jüngsten unerwarteten Empfehlungen des Rates ihre Reformfelle davonschwimmen, fürchtete, daß eine Verlängerung der Übergangszeit das Ende dieser vor fast zwanzig Jahren eingeleiteten Reform besiegeln werde. Dabei geht es längst nicht mehr um die Orthographie. Es geht um die Macht dieser Kultusministerkonferenz in Deutschland. Forderungen des niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff, sie einfach abzuschaffen, zeigen, wie gefährdet ihre Stellung ist. Seit Jahrzehnten beherrscht sie mit ihren Ausschüssen und Kommissionen die überregionale Kulturpolitik. Was ihre Beamten untereinander ohne jede öffentliche Debatte ausgehandelt und was ihre Amtschefs in gemeinsame Vorlagen gegossen haben, wird in den Sitzungen der Kultusminister stets einstimmig abgesegnet. Die Minister haben hier nur noch die Rolle des Grüßaugusts und Frühstücksdirektors ihrer mächtigen KMK-Organisation. Das zeigen auch ihre unbeholfenen Auftritte in Fragen der Rechtschreibung. Wer hier aufbegehrt, dem wird schnell klargemacht, daß er die eigene Machtposition gegenüber den Ministerpräsidenten und dem Bund gefährdet.

So erklärt sich auch der rigorose Umgang der KMK mit ihren eigenen Kommissionen, der Rechtschreibkommission (1987 bis 1996), der Zwischenstaatlichen Kommission (1997 bis 2004) und dem Rat für deutsche Rechtschreibung (seit 2005). Es ist die übliche Praxis der KMK, sich von interessierten Verbänden kostenlosen Rat zu holen, aber nur das zu akzeptieren, was ihr paßt. Wer da glaubt, ein Recht auf Mitsprache oder gar Entscheidung zu haben, ist auf dem Holzweg. Die Arbeitsgruppe Rechtschreibreform der KMK hat sich von ihrer Mannheimer Reformkommission weismachen lassen, die neuen Regeln machten den Unterricht einfacher und leichter. Mit Kritikern haben sie nie ein Wort gewechselt, auch jede öffentliche Auseinandersetzung gemieden. Jetzt wollen sie nur noch eins: das Prinzip der vermeintlichen Reform retten. Darum der Affront gegen den eigenen Rat, darum nehmen sie alles Durcheinander an den Schulen in Kauf. Daß sich die schönen Versprechungen in keiner Weise erfüllt haben, ist längst egal. Die meisten Politiker geben sogar zu, heute würden sie niemals mehr eine Rechtschreibreform versuchen. Dennoch marschieren sie von einem Pyrrhussieg zum anderen.

III. Angemessenheit und Tradition

Es ist eine Ironie der Geschichte, daß mit jedem Jahr des Grabenkriegs um die Rechtschreibreform diese selbst immer überflüssiger geworden ist. Seit den 90er Jahren hat sich mit Rechnern. Mobiltelefonen und Internet eine Revolution sprachlicher Kommunikation vollzogen, durchaus vergleichbar mit Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks. Unterwegs mit dem Mobiltelefon, daheim am Bildschirm - der Schüler von heute braucht sich nicht mehr um die Rechtschreibung zu sorgen wie seine Eltern und Großeltern. Aus dieser Zeit aber stammen die Reforminitiativen und die Reformprogramme, die uns heute plagen. Es ist die Steinzeit der Reiseschreibmaschine und der Statistiken über Rechtschreibfehler. Damals entstand das Ethos der Sorge um Schreibanfänger und Wenigschreiber. Heute scheitert kein Lehrling mehr an der Rechtschreibung seines Bewerbungsschreibens. Er holt sich die Vorlage aus dem Netz. Und keiner schämt sich eines Fehlers in seiner SMS (telefonischen Textnachricht). Nur die Schuldiktate verlangen ihm noch die richtige Rechtschreibung ab. Welches die richtige ist, schert ihn wenig. Hauptsache, die Note stimmt. Das begründet den angeblichen Erfolg der Reform in der Schule.

Natürlich müssen die Schriftnormen unserer Sprache auch weiterhin vermittelt werden. Aber sie sind jetzt nicht mehr zu messen an ihrer leichten Erlernbarkeit, sondern ausschließlich an ihrer Eignung für die eindeutige und differenzierte schriftliche Kommunikation. Darauf ist unsere Rechtschreibung ausgerichtet: in der Großschreibung der Substantive und in der Kleinschreibung aller anderen Wörter und Wendungen, in der syntaktischen Orientierung des Kommas und natürlich auch in der Silbentrennung. Deshalb trennt man am besten nur „hin-über" (und nicht „hi-nüber"), damit man am Ende der Zeile schon ahnen kann, wie es in der nächsten weitergeht und damit keine unsinnigen Bruchstücke wie hi- und -nüber übrigbleiben. Nicht wie ein Schüler laut sprechend Silben trennt, ist entscheidend, sondern wie ein Leser am sichersten und am schnellsten den Sinn erkennt.

Gerade im Zeitalter elektronischer Medien kommt es aufs Lesen an. Daran muß sich die Rechtschreibung orientieren. Zwei Kriterien sind dabei ausschlaggebend: die Sprachangemessenheit und die Tradition des Schreibens. Aber was ist angemessen? Sicher nicht die folgende Faustregel, wie sie jetzt an den Schulen verbreitet wird: groß schreibe man alles, was wie ein Substantiv aussieht, zum Beispiel nach jedem Artikel. Also etwa „aufs Herzlichste, des Öfteren, im Nachhinein". Denn, so fragt unser Sprachgefühl, was ist das Öftere, das Nachhinein und das Herzlichste? Es gibt sie nicht, denn sie kommen bloß in adverbialen Wendungen vor. Darum ist die Großschreibung hier falsch. So wurde es 1901 auf der Berliner Rechtschreibkonferenz unter Mitwirkung erfahrener Schulmänner vereinbart. Sie setzten die umgekehrte Regel durch: im Zweifel schreibe man klein. Dies erlaubt auch die Anpassung an gewandelten Sprachgebrauch und hat hundert Jahre gut funktioniert.

Das zweite Kriterium ist die Tradition: Jede Sprache hat ihre eigene Rechtschreibung, die mit der Geschichte der Sprache gewachsen ist. Auch die deutsche. Sie ist ein Stück ihrer Identität. Dazu gehören gerade die Substantivgroßschreibung, der ausgefeilte Gebrauch des Kommas und auch die etwas schwierigen Regeln der Laut-Buchstaben-Beziehung. Es ist ein Glück, daß hier keinerlei Reformen nötig sind, nur eine ordentliche Erklärung der Regeln. Weil unsere Rechtschreibung auf die Leser zugeschnitten ist, geht sie auch die Schulminister nichts an. Sie sind für den Unterricht zuständig, nicht für die Sprache. Darum haben die Ministerpräsidenten das Recht und die Pflicht, unsere Sprache vor falschem Zugriff und vor einer Verballhornung der Schreibregeln zu schützen. Zwei von ihnen, Edmund Stoiber und Jürgen Rüttgers, haben es erfolgreich getan. Sie gewinnen Vertrauen zurück, was jene durch Mißbrauch verspielt haben.

Horst Haider Munske wurde 1935 in Görlitz, geboren. 1962 wurde er in Marburg zum Dr. phil. promoviert, mit Rigorosum in den Fächern Germanistik, Nordistik, Keltologie.1975 übernahm er den Lehrstuhl für Germanische und Deutsche Sprachwissenschaft und Mundartkunde an de Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; im Jahr 2004 emeritiert. Seit 1984 war Munske Wissenschaftlicher Rat des Instituts für deutsche Sprache (IdS) in Mannheim. Der Kommission für Rechtschreibfragen des IdS und dem Internationalen Arbeitskreis für Orthographie gehörte er von 1986 bis 1996 an. Aus der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung trat Munske im September 1997 unter Protest aus.

Ausgewählte Schriften

Horst Haider Munske (hrsgg. mit Hans-Werner Eroms), Die Rechtschreibreform: Pro und Kontra, Erich-Schmidt-Verlag, Berlin 1997, 264 Seiten, 16,80 Euro.
Horst Haider Munske, Die angebliche Rechtschreibreform, Leibniz-Verlag, St. Goar 2005, 163 Seiten, 9,80 Euro.

Horst Haider Munske, Lob der Rechtschreibung, die mit der Geschichte der Sprache gewachsen ist. Auch die deutsche. Sie ist ein Stück ihrer Identität. Dazu gehören gerade die Substantivgroßschreihung, der ausgefeilte Gebrauch des Kommas und auch die etwas schwierigen Regeln der Laut-Buchstaben-Beziehung. Es ist ein Glück, daß hier keinerlei Reformen nötig sind, nur eine ordentliche Erklärung der Regeln. Weil unsere Rechtschreibung auf die Leser zugeschnitten ist, geht

Horst Haider Munske, Die angebliche Rechtschreibreform, Leibniz-Verlag, St. Goar 2005, 163 Seiten, 9,80 Euro.

Horst Haider Munske, Lob der Rechtschreibung. Warum wir schreiben, wie wir schreiben, C. H. Beck, München 2005, 144 Seiten, brosch., 9,90 Euro.

Die Bücher können Sie über den Buchdienst der DEUTSCHEN SPRACHWELT bestellen.

 



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