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Widerstand der Wissenschaft
 Für Forschung und Lehre in der Landessprache - Von Ralph Mocikat

Deutsche Sprachwelt AUSGABE 30 Winter 2007/08, S. 7
Abdrucke mit freundlicher Genehmigung der DEUTSCHEN SPRACHWELT

Es ist bekannt, daß sich namentlich in den Naturwissenschaften das Englische als alleiniges internationales Verständigungsmedium weitgehend durchgesetzt hat. Darüber hinaus beobachtet man in Deutschland seit einiger Zeit auch im internen Wissenschaftsbetrieb eine zunehmende Verdrängung der Landessprache. So finden nationale Tagungen, interne Seminare oder alltägliche Laborbesprechungen mit ausschließlich deutschsprachigen Teilnehmern oft nur noch in englischer Sprache statt. Anträge deutscher Wissenschaftler bei deutschen Förderinstitutionen (zum Beispiel bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder dem Bundesforschungsministerium) müssen auf englisch vorgelegt werden, und immer mehr universitäre Lehrveranstaltungen werden auf englisch abgehalten. Unseren ausländischen Gastakademikern wird es oft verwehrt, Deutsch zu lernen, auch wenn sie sich hier viele Jahre aufhalten. Diese Entwicklung hat sowohl innerwissenschaftlich als auch gesamtgesellschaftlich erhebliche Folgen.

Was ist Wissenschaft, und in welcher Beziehung steht ihre Sprache zur Gemeinsprache? Wissenschaft will die Welt beschreiben. Sie wird sich aber nicht mit Beobachtung und Beschreibung begnügen, sondern sie will Sachverhalte ursächlich erklären. Hierzu wird der beobachtete Einzelfall generalisiert und abstrahiert, indem das Beobachtete als Teil einer übergeordneten Gesetzmäßigkeit erklärt wird. Dies mündet in die Formulierung einer Hypothese, welche dann die Voraussage noch nicht beobachteter Daten erlaubt. Die Überprüfung solcher Voraussagen an der Realität erfolgt im Experiment und führt zur Preisgabe oder zur Bestätigung der ursprünglichen Hypothese. In letzterem Falle kann diese in eine Theorie gleichen Inhaltes übergeführt werden, welche in weiteren Zyklen wiederum mit neu beobachteten Tatsachen abgeglichen wird. Nach Karl Popper werden in der Wissenschaft subjektive Erwartungen und Überzeugungen objektiviert, werden zu Objekten einer bewußt kritischen Untersuchung. Der Preis wissenschaftlicher Abstraktion ist die Kontraintuitivität, das heißt die Unanschaulichkeit dessen, was mitgeteilt wird. Was Einsteins Relativitätstheorie aussagt, kann sich der „gesunde Menschenverstand“ nicht mehr vergegenwärtigen.

Hier kommt die Sprache ins Spiel. Beobachtungen, also auch experimentelle Ergebnisse, müssen von anderen überprüft und daher anderen mitgeteilt werden können. Es gibt die These, daß jedes Denken sprachgebunden und sprachgeleitet ist. Wissenschaft wird überhaupt erst möglich durch die Sprache, vielleicht sogar erst durch die Schrift. Abstraktion und theoretische Begriffe verdanken sich allein der Sprache: „Kraft“, „chemische Bindung“ oder „Vererbung“ sind Sprachbilder für Sachverhalte, die kein Mensch je gesehen hat. Wenn ein Wissenschaftler entweder seinen Kollegen oder der Öffentlichkeit, – als deren Teil Wissenschaft sich stets verstehen sollte –, Neues mitteilt, muß Unanschauliches anschaulich gemacht werden, und dies kann nur mittels Bildern geschehen. Einstein war hierin ein Meister. Er vermochte seine Relativitätstheorie so zu erklären, daß auch sein Friseur sie verstand. Damit nähern wir uns der Bedeutung, die der Muttersprache für wissenschaftliche Kommunikation zukommt.

Die Mitteilung wissenschaftlicher Inhalte erfolgt auf drei Stufen:

• Am Beginn des Erkenntnisprozesses steht ausschließlich die Gemeinsprache für die Benennung von Neuem zur Verfügung. Man benötigt Metaphern, die stets aus der Alltagssprache stammen. Der Begriff „Zelle“ in der Biologie entsteht durch definitorische Einengung eines umgangssprachlichen vorwissenschaftlichen Begriffs.
• Der Prozeß der Theoriebildung geht einher mit immer schärferer Begriffsbestimmung, neuen Definitionen sowie mit dem allmählichen Übergang der alltagssprachlich geprägten Beobachtungssprache zur Fachsprache. Zum Beispiel ergibt sich der „Zellkern“ im Deutschen zwanglos durch Bildung eines Kompositums, was zum Beispiel im Englischen nicht immer so mühelos möglich ist.
• In manchen Disziplinen steht am Ende die Entwicklung einer theoretischen Sprache. Ein Beispiel ist die Formelsprache der Mathematik, – die dem Adepten jedoch auch erst einmal mit Worten erklärt werden muß.

Diese Zusammenhänge hatte wohl der Philosoph und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker im Auge, als er schrieb: „Die sogenannte exakte Wissenschaft kann niemals und unter keinen Umständen der Anknüpfung an das, was man die natürliche Sprache oder die Umgangssprache nennt, entbehren. Es handelt sich stets nur um einen Prozeß der vielleicht sehr weit getriebenen Umgestaltung derjenigen Sprache, die wir immer schon sprechen und verstehen.“ Man sollte auch nicht übersehen, daß die Gemeinsprache nicht nur die Fachsprachen speist, sondern daß umgekehrt auch die Fachsprachen auf die Alltagssprache zurückwirken, ja sogar die Poesie befruchten können. Der Gebrauch der Muttersprache ist nicht zuletzt entscheidend für den gesellschaftlichen Dialog. Fragen der ethischen und gesellschaftlichen Verantwortung von Wissenschaft können nur im Kontext der Kultur und Sprache erörtert werden. Auch der fächerübergreifende Dialog unter Wissenschaftlern kann nur unter Bezug auf die Bilder der jeweiligen Muttersprache geführt werden, welche allein in der Lage ist, die treffendsten Metaphern bereitzustellen.

In der Vergangenheit gab es schon einmal eine wissenschaftliche Universalsprache. Das war das stark vereinfachte und zu einem formelhaften Idiom erstarrte Latein des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Es war die Zeit der Scholastik. Diese war an neuer Erkenntnis nicht interessiert, es ging damals vielmehr nur um Sammlung und Bestätigung des vorhandenen Wissens. Gegenstand der Forschung war der kanonische Text und nicht die Natur. Im 16. Jahrhundert geschah dann etwas Unerhörtes. Als zu dieser Zeit das Verständnis der Wirklichkeit in den Mittelpunkt rückte, benutzte Galilei als erster Forscher seine Muttersprache. Naturerkenntnis, die den Vorstellungen des gesunden Menschenverstandes oft widerspricht, muß in Diskussionen erarbeitet und gegenüber dem Zweifler durchgesetzt werden. Dies gelingt nicht in einer reglementierten lingua franca, sondern nur in der Sprache, die man völlig souverän beherrscht. So war es kein Zufall, daß ein noch nie da gewesener Aufschwung der empirischen Wissenschaften zu dem Zeitpunkt einsetzte, da das lateinische Einheitsidiom aufgegeben und durch die Einzelsprachen ersetzt wurde.

In Deutschland setzte diese Entwicklung verzögert ein. Hier war es Christian Thomasius, der 1687 die erste Vorlesung in seiner Muttersprache hielt. Im 19. Jahrhundert waren im internationalen Verkehr Englisch, Französisch und Deutsch gleichberechtigt, wobei das Deutsche eine Vorzugsstellung genoß. Die Verdrängung der deutschen Wissenschaftssprache begann schon nach dem Ersten Weltkrieg, wie neuere Forschungen belegen. Nach 1919 wurden die deutschen Wissenschaftler aus den internationalen Verbänden ausgeschlossen und neue Wissenschaftsorganisationen sowie englischsprachige Fachzeitschriften gegründet. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich Englisch immer mehr durch und wurde nicht zuletzt durch das System, mittels dessen das US-amerikanische Institute for Scientific Information wissenschaftliche Leistung weltweit zu bewerten versucht, in vielen Disziplinen zur ausschließlichen Publikationssprache.

Es gibt Anzeichen dafür, daß ein neues Mittelalter heraufdämmert. Die heute benutzte wissenschaftliche Einheitssprache zeigt Parallelen zu der lateinischen lingua franca der Scholastik. Das heutige Wissenschaftsenglisch hat nämlich wenig gemein mit jenem hoch differenzierten Englisch, wie es nur Muttersprachler beherrschen können, es hat sich vielmehr eingeengt auf eine schmale Funktionssprache mit reduziertem Vokabular und formelhaften Wendungen. Zu Recht hat man dieses Verständigungsmedium als eine Pidginsprache bezeichnet, mit deren Hilfe etabliertes Wissen möglicherweise mitgeteilt werden kann, echtes kreatives Denken jedoch schlechterdings nicht möglich ist.

Sprache ist nämlich nicht nur Instrument der Präsentation von fertigem Wissen, sondern auch Werkzeug zur Generierung von Erkenntnis. Das ist selbstverständlich in den Geistes- und Kulturwissenschaften, deren kulturell-historische Bezüge offensichtlich sind oder wo Sprache selbst Gegenstand der Forschung ist. Doch das gilt auch für die Naturwissenschaften. Denn der eigentlich kreative Akt des Naturwissenschaftlers ist die Formulierung der Hypothese, und hier zeigt sich, daß die Herangehensweise gegenüber offenen Fragen, das Auffinden der Hypothesen, das heißt die Heuristik stets in dem Denken verwurzelt bleibt, das die Muttersprache mitbedingt. Auch in den Naturwissenschaften spielt für die Erkenntnisgewinnung verbales Argumentieren eine entscheidende Rolle.

Die Folgen der englischen Einsprachigkeit kann man in Seminaren betrachten. Da auch Personen mit exzellenten Fremdsprachenkenntnissen komplexe Sachverhalte niemals so treffsicher, stilistisch so nuanciert und so bildhaft wiederzugeben vermögen, wie das in einer Muttersprache möglich ist, leidet das inhaltliche Niveau, werden kontroverse Diskussionen oft abgewürgt, wenn neueste Ergebnisse auf englisch besprochen werden. Hierzu hat der Verfasser eine empirische Untersuchung angestellt. In Seminaren mit ausschließlich deutschsprachigen Teilnehmern, die allesamt beanspruchten, das Englische hervorragend zu beherrschen, war die Diskussion hochsignifikant eingeschränkt, wenn man gezwungen war, die Fremdsprache zu benutzen. Analoge Erfahrungen wurden aus Schweden berichtet. Hier wurde gezeigt, daß in naturwissenschaftlichen Vorlesungen das Verständnis seitens der Studenten erheblich zurückbleibt, wenn die Vorlesungen auf englisch gehalten wurden. Warum also eine immer weiter zunehmende Komplexität wissenschaftlicher Inhalte mit einer Flucht aus derjenigen Sprache, in der man sich am differenziertesten auszudrücken versteht, nämlich der eigenen Muttersprache, beantwortet werden soll, bleibt ein Rätsel.

Welche Folgen hat der Rückzug einer Einzelsprache aus dem Bereich von Wissenschaft und Forschung für die gesamte Sprachgemeinschaft? Im deutschen Sprachraum kann man beobachten, daß eine Weiterentwicklung fächerspezifischer Terminologien nicht mehr stattfindet, daß auch etablierte Fachausdrücke in Vergessenheit geraten, daß also die deutsche Sprache im Begriff ist, ihre Wissenschaftstauglichkeit zu verlieren. Eine Sprache, die aus immer mehr Wissensgebieten verdrängt wird, und zwar gerade aus den innovativen und zukunftsweisenden Bereichen, ist eine bedrohte Sprache. Wenn die universitäre Lehre auf englisch erfolgt, wird es bald keine Lehrer mehr geben, die die Terminologien anders als in englischer Sprache weitergeben könnten. Wenn dann der naturwissenschaftliche Unterricht an den Schulen als so genannter bilingualer Unterricht erfolgt, der jedoch in Wahrheit monolingual englisch ist, werden die Schulabgänger der Zukunft über wichtige Themen der Chemie, Biologie oder Physik nicht mehr deutsch sprechen können.

Eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern ist über die diese Entwicklung besorgt. So wurde 2005 ein Thesenpapier zur deutschen Sprache in der Wissenschaft veröffentlicht, das mittlerweile etwa 200 Persönlichkeiten unterzeichneten. Auf der Grundlage dieser Thesen haben einige Wissenschaftler vor kurzer Zeit den „Arbeitskreis Deutsch als Wissenschaftssprache“ ins Leben gerufen, der sich zum Ziel gesetzt hat, in allen wissenschaftlichen Disziplinen das Potential verschiedener Sprachen zu nutzen. Natürlich soll das Englische als internationales Verständigungsmedium nicht in Frage gestellt werden. Jedoch sollte im Sinne der sprachlichen Vielfalt und der Pluralität der Forschungsansätze auch die deutsche Wissenschaftssprache gepflegt und weiterentwickelt werden.

Auf internationalen Tagungen sollten Vortragende nicht zu einer Einheitssprache verpflichtet werden, sondern es sollten auch andere Sprachen zugelassen werden, die als Wissenschaftssprachen Tradition haben. Simultanübersetzung ins Englische muß natürlich gewährleistet sein. Im Laboralltag, in internen Seminaren und auf Tagungen ohne internationale Beteiligung sollte man sich selbstverständlich der Landessprache bedienen. Weiterhin sollten deutsche Muttersprachler ihre Abschlußarbeiten, interne Berichte oder Förderungsanträge bei deutschen Drittmittelgebern in deutscher Sprache verfassen, und ganz wichtig ist es, daß unsere Gastwissenschaftler wieder darin unterstützt werden, Deutsch zu lernen, wie das früher auch üblich war, es sei denn, sie halten sich nur wenige Wochen oder Monate bei uns auf. Schließlich sind angesichts der geradezu katastrophalen sprachlichen Defizite, die wir bei unseren Studenten feststellen, die Schulen aufgefordert, die Kompetenz auch in der Muttersprache wieder zu stärken und auch im naturwissenschaftlichen Unterricht wieder Wert auf gutes Deutsch zu legen.

Prof. Dr. med. Ralph Mocikat ist Mitbegründer und Erster Vorsitzender des Arbeitskreises Deutsch als Wissenschaftssprache (ADAWIS) e. V., der auf der Grundlage der „Sieben Thesen zur deutschen Sprache in der Wissenschaft“ entstanden ist (www.7thesenwissenschaftssprache.de). ADAWIS arbeitet unabhängig von Sprachgesellschaften und politischen Parteien. Weitere Informationen unter www.sprachpflege.info oder www.adawis.de.

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