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Sprache / Deutsche Sprachwelt DSW / D.Sprechen und Denken kurz / D.Sprechen und Denken lang
 

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Sprechen und Denken
Wie der Schulunterricht den Gefährdungen der Sprachlichkeit begegnen kann
Von Heinz Zimmermann

Deutsche Sprachwelt AUSGABE 28 Sommer 2007, S. 3
Abdrucke mit freundlicher Genehmigung der DEUTSCHEN SPRACHWELT

Das Urphänomen der Sprache ist das Gespräch, die mündliche hörbare Sprache, die voraussetzt, daß sich zwei Menschen einander zuwenden. Die ursprüngliche Sprache ist also an die unmittelbare Gegenwart der Menschen geknüpft. Diese unmittelbare Beziehung verschwindet bereits beim Schreiben. Die Schrift ist bereits Ausdruck eines Verstummungsprozesses, in dem der Schreiber und der Leser nicht mehr unmittelbar anwesend sein müssen. In der Vervielfältigung durch den Druck nimmt die Anonymität noch einmal zu, die Sprache entfernt sich noch mehr von der direkten Beziehung des Sprechers und des Hörers.

Ein wesentlicher Schritt entsteht durch die Verwendung des Rechners als Kommunikationsmittel. Schon heute gibt es sprechende Rechner, und es ist möglich, daß ein Rechner ein Diktat aufnimmt und es in schriftliche Form umsetzt. Wir sind damit scheinbar wieder näher beim mündlichen Sprachausdruck, in Wirklichkeit aber ist diese Nähe eine völlige Illusion; gerade die Kommunikation im Internet beruht ja auf der vollständigen Anonymität der Partner.

Die Begegnung der Menschen ist gespenstisch geworden. Der Weg, den die Sprache auf dieser Stufe nimmt, führt sie dazu, daß sie stumm wird, manipulierbar, anonym, das heißt losgelöst von Personen und unverbindlich. Man vergleiche den Vorgang des Schreibens von Hand und den durch den Rechner. Der unterschiedliche Druck, den die von Hand geführte Feder auf die Schreibunterlage ausübt, eine persönlich geformte individuelle Spur hinterlassend, die gesamte Muskulatur des Oberkörpers ist dabei in Aktion – so die Handschrift.

Demgegenüber das kaum hörbare Geräusch der Tastatur, die ohne großen Fingerdruck betätigt wird und normierte Buchstaben auf den Bildschirm zaubert, die meine Augen in gleichbleibendem Abstand mit kaum bewegtem Kopf verfolgen. Man kann dabei Worte, Sätze und ganze Passagen löschen, hinzufügen, umstellen, das heißt in beliebiger Weise manipulieren.

Erziehung des Denkens durch Spracherziehung

Wenn wir die Schüler durch den Unterricht zu einem lebendigen Denken anregen wollen, so können wir das nur indirekt durch eine differenzierte Spracherziehung tun. Denn bevor sich das Denken vom Sprechen emanzipiert, kann dieses noch nicht unmittelbar angesprochen werden. Die Verwandtschaft, die grundsätzlich zwischen Sprechen und Denken besteht, zeigt sich hier auch im entwicklungspsychologischen Verlauf.

Der Satz „Charakterisieren statt Definieren“ gilt daher auch für die Spracherziehung. Je differenzierter wir selber charakterisieren, je reicher unser Wortschatz ist, um so reicher und differenzierter entwickelt sich später das Denk- und Urteilsvermögen der Schüler. Indem wir sprechen, denken wir laut, oder auch umgekehrt: Indem wir denken, sprechen wir leise.

Vier Gefährdungen der Sprachlichkeit

Wie wir gesehen haben, finden wir gerade innerhalb des Sprachbereiches heute massive negative Beeinflussungen, die wir kennen müssen, wenn wir sie bei uns und im Sprachunterricht überwinden wollen. Sie offenbart sich in vier Tendenzen, die sich alle des menschlichen Bewußtseins bemächtigen wollen.

(1) Wir sind gewohnt, in Worten zu denken. Das hat zur Folge, daß unser Bewußtsein an bestimmte Worte so gefesselt ist, daß ein besonnenes Denken ausgelöscht wird. Jede Gemeinschaft kennt solche Worte, die, wenn sie ausgesprochen werden, sogleich Emotionen heraufbeschwören. Eine polare Erscheinung, die aber auch auf dem In-Worten-Denken beruht, ist die Verwendung der Worte als leere Sprechblasen. Das Phänomen der „political correctness“ gehört hierzu, die Fähigkeit, mit vielen Worten nichts zu sagen, die Beherrschung der Phrase.

Fesselung und Unverbindlichkeit also sind zwei Erscheinungsformen der Tatsache, daß wir normalerweise in Worten denken. Goethe läßt Mephistopheles (Faust I, Verse 1990-2000) diesen Tatbestand aussprechen:

 Mephistopheles:
 Im ganzen – haltet Euch an Worte!
 Dann geht Ihr durch die sichre Pforte
 Zum Tempel der Gewißheit ein.

 Schüler:
 Doch ein Begriff muß bei dem Worte sein.

 Mephistopheles:
 Schon gut! Nur muß man sich nicht allzu ängstlich quälen;
 Denn eben wo Begriffe fehlen,
 Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
 Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
 Mit Worten ein System bereiten,
 An Worte läßt sich trefflich glauben,
 Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

(2) Eine weitere bedenkliche Entwicklung unserer gegenwärtigen Sprache ist der Verstummungsprozeß. Wir haben in der Regel kein Gefühl mehr für die Ausdruckswerte der gehörten Sprache. Wir sind gewohnt, kaum einen Unterschied zu machen zwischen dem durch das Medium vermittelten Gehörten – Telefon, Radio, Fernsehen – und dem unmittelbar Gesprochenen; für uns sind Geschriebenes, Gedrucktes, Vervielfältigtes und auf dem Bildschirm Erscheinendes zur wichtigsten alltäglichen Sprachform geworden. Damit aber geht eine Inflation des Wortes einher. Es ist unverbindlich geworden, sprachliche Erzeugnisse sind Wegwerfartikel.

(3) Als drittes bemerken wir, wie unsere Sprache nicht mehr in ihrer ursprünglichen Bildhaftigkeit empfunden wird. Da sie in erster Linie als Informationsaustausch verstanden wird, kann sie auf die Bildhaftigkeit, die vor allen Dingen das Gemüt anspricht, verzichten. Wenn Bilder vorkommen, so sind es zumeist bloße Abbilder der sinnlichen Wirklichkeit, die wir passiv konsumieren.

(4) Viertens können wir schließlich bemerken, wie wir in der gegenwärtigen Zeit immer weniger fähig sind, Sprache als gestaltete Zeitlichkeit zu verstehen. Dahinter verbirgt sich ein tieferes Phänomen, nämlich daß ja Sprache immer gestaltete Zeitlichkeit ist und daß die Reihenfolge eine ganz wesentliche Aussage darstellt. Das kann man besonders im Gespräch beobachten. Wann ist eine bestimmte Aussage sinnvoll, wann sollte man (noch) lieber auf sie verzichten? Das Gefühl dafür, was im Gespräch an der Zeit ist, gehört zu den wichtigsten Erfordernissen eines fruchtbaren Dialogs. Dieses Gefühl für den gestalteten Zeitstrom der Sprache ist heute wenig entwickelt. In einer Zeit, in der wir in der Regel nur nach der inhaltlichen Information schnappen, ist uns die Zeitgestalt unwichtig.

Das Gemeinsame all dieser Tendenzen liegt darin, daß wir auf sprachlichem Feld die Erlebnismitte zu verlieren drohen. Phrase und Emotion, Verlust der sinnlichen Ausdruckswerte und des Bildempfindens und schließlich mangelndes Gefühl für den Zeitverlauf – all dies sind Erscheinungsformen, die sich aus der mittleren Organisation, die gleichzeitig die vermittelnde ist, entfernen und damit den Bereich, wo Sprache ihre Heimat hat, verlassen. Das ruft uns wiederum auf, diesen Tendenzen bewußt etwas entgegenzusetzen.

Wie können Sprache und Denken wieder befreit werden?

Zunächst geht es darum, sich durch Übung von der festen Verbindung von Wort und Begriff zu befreien. Das hat eine Wirkung auf das Denken und gleichzeitig auf das Sprechen. Rudolf Steiner schreibt in der „Philosophie der Freiheit“: „Was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, daß er Begriffe habe.“

Zum lebendigen Begriff kann ich nur kommen, wenn ich mich darauf einlasse, den gleichen Begriff durch verschiedene Worte, und verschiedene Begriffe durch das gleiche Wort repräsentiert zu finden. Es ist die Befreiung des Begriffes aus der Fesselung durch das Wort. Man könnte denken, daß dadurch die Sprache unbedeutend würde. Das Gegenteil ist die Folge; denn erst jetzt, wenn die Bedeutungsseite der Sprache wegfällt, werde ich ihrer Eigenwerte gewahr: Ich beginne ihre Offenbarungen in Klang und Rhythmus, Bild- und Zeitgestalt zu erleben. Indem man sich übend der Welt der Töne und des Gesprächs zuwendet, erwirbt man auch immer mehr die Fähigkeit, zur rechten Zeit und aus der Situation heraus zu sprechen.

Die Verlebendigung im Sprachunterricht

Mein Gesprächsbeitrag wird dann hilfreich, wenn ich nicht nur aus mir, sondern aus der Wahrnehmung der Situation und der anderen Gesprächsteilnehmer meinen Beitrag gebe.
Mein Verhalten wird dadurch so, daß ich nicht Urteile übermittle, sondern den anderen anrege, eigene Urteile zu bilden.

Wir wollen uns dies im Bereich des Sprachunterrichts vergegenwärtigen. In verwandelter Form wiederholen wir dabei die Stufen, die der Mensch beim kleinkindlichen Spracherwerb durchmacht. Dabei ist zu beachten, daß diese Stufen nicht so gemeint sind, daß durch die folgende die vorhergehende abgeschlossen wäre, sondern daß alle Stufen durch die ganze Schulzeit gepflegt werden sollen. Auch beim Kleinkind entwickeln sich ja die früheren Stufen weiter.

Zuerst nimmt das Kind die Sprache nachahmend als Melodie und Rhythmus im Sprechen wiederholter Silben auf, noch ohne im einzelnen eine Bedeutung wahrzunehmen. Das Sprache-Hören und Selber-Sprechen kommen also vor dem Verstehen. Dann kommt das Kind zu der Wortstufe, wo es in einer unwahrscheinlichen Beweglichkeit sich seinen Wortschatz aneignet, und schließlich zu der Fähigkeit, Sätze aufzunehmen und zu sprechen. Damit erreicht es die wichtigste Grundlage für die Entwicklung des Denkens. Auf diesen drei Feldern – Laut, Wort und Satz – Fähigkeiten zu entwickeln, ist die Aufgabe des Sprachunterrichts mit dem Ziel, daß der Schüler auf diesen drei Gebieten mit der Sprache bewußt umgehen kann.

Pflege der sinnlichen Seite der Sprache

Unsere Zeit fordert, wie wir gesehen haben, daß wir besonders auf die erste Aufgabe, die sich auf die sinnliche Seite der Sprache bezieht, ein besonderes Gewicht legen. Dazu gehören die Pflege des Lautempfindens durch Sprachübungen und die Rezitation von Sprachkunstwerken. Wir sollten uns aber darüber hinaus auch der Bedeutung dessen bewußt werden, daß wir das Sprache-Hören gebührend schulen, so daß wir die einen sprechen, die anderen zuhören lassen, daß wir die verschiedenen Ausdruckswerte eines Wortes zu Gehör bringen und beschreiben lassen, daß wir dazu auffordern, das gleiche in unterschiedlicher Ausdrucksform zu sprechen, daß wir auch dazu anregen, durch Gesten ohne Worte etwas auszusagen.

Sprachliche Differenzierung durch das Wort

Auf der zweiten Stufe geht es um die sprachliche Differenzierung durch das Wort. Wie kann ich etwas treffend charakterisieren? Welche unterschiedlichen Ausdrücke gibt es für einen bestimmten Vorgang, wie zum Beispiel gehen, sprechen, essen, trinken und so weiter? Welche Bilder stecken in den Worten, etwa in erklären, erinnern, den Nagel auf den Kopf treffen?

In unserem Beispiel sammeln wir die Wörter für essen und trinken, besprechen anschließend, wenn die einzelnen ihre Ergebnisse vorgelesen haben, die unterschiedlichen Ausdruckswerte und geben als nächste Aufgabe die kurze Schilderung einer Mahlzeit von drei Stadtstreichern und stellen sie der Schilderung eines Essens in einem Nobelrestaurant gegenüber. Das Ziel dabei ist, ein Bewußtsein für die unterschiedlichen Stilwerte, für das Charakterisieren durch die Sprache zu vermitteln.

Pflege der Charakterisierungskraft der Sprache

Damit sind wir eigentlich schon beim dritten Bereich, bei der Aufgabe, durch den Sprachstil themenentsprechend zu charakterisieren. Hier geht es dann schwerpunktmäßig in der Oberstufe darum, das Verhältnis von Satz und Gedanke, von Sprache und Denken erlebbar zu machen und hierin die Ausdrucksfähigkeit zu steigern. So kann es in einer neunten oder zehnten Klasse sehr förderlich sein, einen gleichen Tatbestand in unterschiedlicher Stilart zu beschreiben, wie es in einer Vorstufe oben gezeigt wurde. Eine ähnliche Aufgabe besteht im folgenden: Nachdem man eine Passage eines Schriftstellers gelesen und nachempfunden hat, soll die Fortsetzung im gleichen Stil verfaßt werden, so daß man sich gleichsam in die Rolle des Schriftstellers zu versetzen hat. So wie man auf der Bühne in eine Rolle schlüpft, so identifiziert man sich hier mit einem Sprachstil. Immer gilt das Exemplarische, die Beschränkung auf das Wesentliche.

Diese wenigen Andeutungen mögen genügen, um die große Aufgabe der Spracherziehung zu charakterisieren, aktiv gegen den Verlust der Erlebensmitte eine verantwortliche Sprachkompetenz zu vermitteln. Es geht also nicht einfach darum, dem Kinde ein bißchen mehr Zeit zu lassen mit Lesen- und Schreibenlernen, sondern es geht um seine künftige Selbstbestimmung, es geht um die Fähigkeit, den leibgebundenen Willen – hier im Lesen und Schreiben, dann aber auch im Sprechen und Zuhören und schließlich im Denken – durch einen sachgemäßen, auf menschenkundlichen Gesichtspunkten aufbauenden Unterricht zu befreien.

Leicht gekürzter Beitrag aus: Erziehungskunst, Sonderheft „Sprache, Sprechen, Sprache gestalten, Januar 2007.

Der Schweizer Germanist und Historiker Dr. Heinz Zimmermann ist seit 1988 Vorstandsmitglied der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, die weltweit 52.000 Mitglieder hat.

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