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Sprachpflege – Sprechpflege – Schreibpflege 
 Warum Sprachpflege nicht auf Schreibpflege beschränkt sein darf

 

Der Mensch lernt zuerst sprechen, dann schreiben    

Einige Jahre wird bereits um die Rechtschreibreform gestritten. Gemeinsames Ziel der Vereine, Organisationen, Germanisten und Sprachbewußten, die sich mit der alten, der neuen und einer geänderten neuen Rechtschreibung beschäftigen, ist die Erhaltung einer einheitlichen Rechtschreibung. Um das Mißverständnis zu vermeiden, ich wolle meine Anerkennung der zahlreichen Aktivitäten gegen die Reform abwerten oder sie gar als überflüssig hinstellen, möchte ich betonen, ebenfalls die Reform in der beschlossenen Fassung entschieden abzulehnen, und nur zu bedenken geben, daß die deutsche Sprache nicht nur aus der Schreibung besteht.

Die im Zusammenhang mit dem "Ziel" genannte „Sprachpflege“ erweckt den Anschein, „Rechtschreibung“ und „Sprache“ seien identische Ausdrucksformen menschlicher Verständigung. Doch die konsequente Auslegung der Wörter „Sprache“ und „Sprachpflege“ führt zu der Erkenntnis, daß der vielversprechende Begriff „Sprachpflege“ sprachliche Ziele abdeckt, die weder angestrebt noch mit den vorgeschlagenen Maßnahmen erreichbar sind. Auch die zahlreichen und teilweise sehr umfangreichen Stellungnahmen gegen die Reform mit vielen Beispielen von unsinnigen und mißverständlichen Regelungen richten sich nicht auf die Pflege der Sprache im weiteren Sinn, sondern (nur) auf die Schreibpflege. Erst zusätzliche Bemühungen um die Pflege des gesprochenen Wortes, also die Sprechpflege würde es rechtfertigen, den beide Pflegeziele einschließenden Begriff "Sprachpflege" als Tätigkeits- und Zielangabe zu benutzen. Die Sprachentwicklung beim Menschen wie auch beim Kleinkind legt es nahe, unter dem Wort „Sprache“ immer erst „Sprechen“ zu verstehen. Die Sprechpflege wäre ein anderes Thema. Folglich stehen Artikel gegen die Verhunzung der deutschen Sprache durch Sprachmüll und Anglizismen im Schatten der vielen Stellungnahmen gegen die Reform.

Übersicht
1. Neue Hoffnung?
2. Begriffsbestimmung für „Sprache“
3. Begriffsbestimmung für „Sprachpflege“
4. Begriffsbestimmung für „Schreiben“
5. Die Entwicklung der Sprache
6. Sprechen ist wichtiger als schreiben
7. Angebot und Nachfrage
8. Die Sprechpflege
9. Plausibilität
10. Eindeutigkeit
11. Das Defizit
12. Das stumme Sprechen
13. Die Auffälligkeiten der neuen Schreibung
14. Kuam uz galuebn
15. Lasche Sprachpflege
16. Hauptsache richtig geschrieben
17. Wen kümmert es ..
18. Warum die Aufregung?
19. Sprachliche Bedrohung?
20. Dauerzustand: Verhunzung der Sprache
21. Bremsen zwecklos
22. Wir brauchen einen Sprach-Knigge
23. Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ( Vorlage für die Sitzung der Amtschefskommission"Rechtschreibung“ am 05.02.2004)

1. Neue Hoffnung?
Die Aufforderung acht namhafter deutscher Akademien an die Kultusminister der Länder und andere zuständige staatliche Vertreter im gesamten deutschsprachigen Raum, endlich die Konsequenzen zu ziehen und die Rechtschreibreform rückgängig zu machen (F.A.Z. v. 21. Nov. 2003), weckt die Hoffnung auf ein Ende des gegenwärtigen und zukünftigen Schreibwirrwarrs. Für die F.A.Z wäre das eine Bestätigung ihres Beharrens auf der alten Rechtschreibung, für die Allgemeinheit eine Erleichterung und für die genannte Zweckgemeinschaft, die sich mit der alten, der neuen und einer geänderten neuen Rechtschreibung beschäftigten, ein Erfolg. Ob nun deren Ziel, die Erhaltung einer einheitlichen Rechtschreibung oder eine vom Potsdamer Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg entwickelte Reform der Reform am Ende des mehrere Jahre dauernden Streits um die Rechtschreibreform steht, gelöst wäre mit der (neuen) rechten Schreibung nur ein zeitweiliges Problem der deutschen Sprache. Ein viel tiefer gehender Mißstand wurde während dieser Zeit noch mehr ignoriert als schon vor der Reform, nämlich das fehlerhafte Sprechen. Immer weniger Leute beherrschen ihre Muttersprache nicht. Sogar lehrbeauftragte Germanisten kennen bspw. nicht den Unterschied zwischen den Wörtern "mehrfach" und "mehrmals"; der Duden ignoriert ihn ebenfalls. Nicht einmal der Hinweis auf die von ihm selbst dokumentierten Regeln konnte die Redaktion dazu bewegen, den Unsinn aus den Wörterbüchern zu entfernen und dem Ratsuchenden eindeutige und vor allem richtige Informationen zu geben.

2. Begriffsbestimmung für „Sprache“
Wahrig’s Definition für "Sprache" lautet: „Ein System von Lauten, die durch Atemluft und Sprechwerkzeuge des Menschen hervorgebracht werden und zum Ausdruck von Gedanken, Gefühlen, Willensregungen usw. dienen, wichtigstes Verständigungsmittel der Menschen untereinander“. Und der Duden (2000) führt dazu u. a. aus: „Fähigkeit des Menschen zu sprechen; das Sprechen als Anlage, als Möglichkeit des Menschen sich auszudrücken: Art des Sprechens; Stimme, Redeweise, mit jemandem sprechen, reden, seine Meinung sagen, eine deutliche Sprache sprechen. Erst zum Schluß seiner Erläuterungen mit vielen Beispielen aus der Literatur erwähnt der Duden: „System von Zeichen u. Regeln, das einer Sprachgemeinschaft als Verständigungsmittel dient.“

Der Brockhaus (Enzyklopädie, 24. Bd., 1997) unterscheidet zwischen Sprache im engeren Sinn (Bezeichnung für die natürliche Sprache des Menschen) und Sprache im weiteren Sinn (Bezeichnung für Kommunikationssysteme unterschiedlicher Art (außer der natürlichen menschlichen Sprache die künstlichen Sprachen wie Welthilfssprachen, formale logische Sprachen und Programmiersprachen), aber auch Kommunikationssysteme von Tieren sowie mit Symbolen arbeitende Zeichensprachen. Zwischen Sprechen und Schreiben wird erst im Zusammenhang mit der „Sprachfähigkeit“ unterschieden. Danach, so weiter im Brockhaus, ist die „allgemeine Sprachfähigkeit des Menschen in einer genetisch verankerten, auf organischen und kognitiven Grundlagen beruhenden Fähigkeit begründet. Diese Grundlagen umfassen einerseits die physiologischen Voraussetzungen zum Sprechen und Hören sowie die entsprechenden Voraussetzungen zum Schreiben und Lesen, andererseits die neurologischen, im Gehirn lokalisierte kognitive Ausstattung, die dem Menschen das Erlernen von Sprache sowie die Produktion und Rezeption sprachlicher Äußerungen ermöglicht.“

3. Begriffsbestimmung für „Sprachpflege“
Der Begriff „Sprachpflege“ umfaßt u. a. die „Pflege und Reinerhaltung der Muttersprache“ (Wahrig), „die Gesamtheit der Maßnahmen, die auf einen normgerechten Sprachgebrauch abzielen sowie die Bemühungen um eine Verbesserung der Sprachbewußtheit und einen kultivierten Sprachgebrauch“ (Duden) und „Maßnahmen zum Erhalt und Ausbau einer Sprache unter Berücksichtigung von Sprachstruktur, Sprachgebrauch und Bedingungen sprachlicher Kommunikation mit dem Ziel einer optimalen Verständigung zwischen den Kommunikationspartnern.“ (Brockhaus) Die Begriffe Sprache und Sprachpflege umfassen somit sowohl Sprechen und Hören als auch Schreiben und Lesen. Auch die Definitionen, die Sprachentwicklung des Menschen und des Kleinkindes sowie der tägliche Gebrauch der Sprache und die Wichtigkeit des Sprechens im sprachlichen Kommunikationssystem berechtigen, Sprache vorrangig mit Sprechen gleichzusetzen und - die Rechtschreibreformkritiker mögen das nicht gern hören wollen – Schreiben als eine Nebenfunktion der Sprache, wenn auch eine wichtige, anzusehen. Keinesfalls ist aus den Definitionen eine Einengung der Sprachpflege auf die Schreibung ableitbar.

4. Begriffsbestimmung für „Schreiben“
Die Erläuterung für Schreiben lautet im Brockhaus: (Eigentlich mit dem Griffel ritzen) „das Anbringen von Schriftzeichen eines Schriftsystems auf einer mehr oder weniger dauerhaften Unterlage zum Zweck der Kommunikation.“ Auch die weiteren Darlegungen zur Schriftentwicklung enthalten nicht ein einziges Mal das Wort „Sprache“.

5. Die Entwicklung der Sprache
Erste Verständigungsmittel zwischen den gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Primaten (vor mehr als 2 Mill. Jahren) waren animalische Grunzlaute, also akustische Signale. Anthropologen sind sich nicht einig, ob die Entwicklung der Finger eher als die der Zunge stattfand. Vieles spricht für die erste Version, weil der Gebrauch von Werkzeugen im Zusammenhang mit dem aufrechten Gang, der eine andere, tiefere Atmung ermöglichte, abstraktes Denken anregte. Neueste Ergebnisse beim Vergleich der Erbanlagen des Menschen und des Schimpansen, mit dem wir fast das gesamte Erbgut gemein haben (ca. 98%), zeigen, daß sich ein Gen für den „Forkhead-box-P2-Transkriptionsfaktor in der menschlichen Evolution ungewöhnlich schnell verändert hat. Dabei handelt es sich um ein Gen, das für die korrekte Sprachentwicklung gebraucht wird.

Dem widerspricht nicht die Annahme, daß das Broca-Areal (im präfrontalen Cortex direkt unterhalb der für das Arbeitsgedächtnis zuständigen Areale) und damit die Fähigkeit zur syntaktisch-grammatikalischen Sprache eine recht junge »Erfindung« der Evolution beim Menschen ist. „Man schätzt,“ so der Gehirnforscher Gerhard Roth, „daß beides erst vor hunderttausend Jahren entstanden ist, wahrscheinlich aus einer Vorstufe, die wesentlich affektiv-emotionale Lautäußerungen, begleitet von Gestik und Mimik, umfaßte. Der Evolution der syntaktisch-grammatischen Sprache liegt“ – neben der beim Menschen schneller als bei allen anderen Arten eintretenden Vergrößerung des Gehirns (Cortex) – „offenbar zum einen die Ausbildung der Fähigkeit zugrunde, Symbole sprachlicher wie nichtsprachlicher Art in ihrer zeitlichen Reihenfolge zu erkennen und systematisch abzuwandeln.“ Mit anderen Worten: Wesentlich dafür war die Ausbildung der Symbolhaftigkeit der Sprachzeichen und des Sinns für Sprachregeln (Grammatikalität), d. h. die Möglichkeit, beliebige Kombinationen von Silben, Wörtern usw. zu bilden. Mit der Grammatik wurde eine nahezu unendliche Produktion von sprachlichen Bedeutungen unter Verwendung bestimmter Regeln (der Syntax) ermöglicht.

„Zum anderen“, so Roth weiter, „ergab sich eine Umgestaltung unseres Sprechapparats, die unter anderem in einer Absenkung des Kehlkopfes bestand, und schließlich entwickelte sich eine neuartige Ansteuerungsmöglichkeit des Kehlkopfes, des Gaumens, der Zunge und der Lippen durch das Stirnhirn, die in dieser Weise bei den Primaten nicht vorhanden ist. Damit wurden ein viel reichhaltigeres Lautrepertoire und eine »willentliche« Steuerung des Sprechapparates möglich. Dies war ein Riesensprung in der menschlichen Kommunikation, und er übertrug sich auch auf das »innere Sprechen«, d. h. das Denken“ (siehe „Das stumme Sprechen“)

Von der Literatur-Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer stammt die Feststellung: „Nicht das Werkzeug hat den Menschen zum Menschen gemacht, sondern das Wort. Nicht der aufrechte Gang und der Stock, um damit nach Nahrung zu graben oder zu kämpfen, machen den Menschen zum Menschen, sondern die Sprache." Und der Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb: Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.

6. Sprechen ist wichtiger als Schreiben
Kinder lernen Sprache immer ausschließlich mit anderen Menschen. Nach ersten Lautäußerungen beginnen sie, die gehörte Sprache zu verstehen und zu sprechen und erst dann fangen sie an, mit der Hand Schriftzeichen zu formen, zu malen und zu schreiben. Beginnt nicht auch die Bibel mit „Am Anfang war das Wort? Schließlich hängt das Wort „Sprache“ etymologisch nicht mit „schreiben“, sondern mit „sprechen“ zusammen. Wer Sprache sagt meint meistens das Sprechen, also nicht das geschriebene, sondern das gesprochene Wort. Die akustisch vermittelte Sprache ist das wichtigste Verständigungsmittel zwischen den Menschen. In vielen Bereichen menschlicher Verständigung, sogar das vorwiegend benutzte Ausdrucksmittel. Die gesprochene Sprache gewinnt auch mit der Entwicklung digitaler Speicher zunehmend als Mittel der kulturellen Überlieferung an Bedeutung. Schon jetzt werden Hörbücher immer beliebter, das Angebot dafür immer umfangreicher. Eine Suchanfrage in Google brachte fast 700 000 Treffer.

7. Angebot und Nachfrage
Der zunehmend nachlässige Gebrauch der Sprache überrascht nicht. Schon vor der Rechtschreibreform waren keine weitreichenden, intensiven und vor allem aktiven Bemühungen um die deutsche Sprache wirksam. Welche sprachbetroffene Institution setzte sich öffentlich für eine klare Wortwahl ein und geißelte die allgemeine Verhunzung der Sprache? Es gab und gibt sie, die diversen Sprachberatungen, seit einiger Zeit bequem im Internet zu erreichen, wie z. B. „Gesellschaft für die deutsche Sprache“, „Bibliographisches Institut Mannheim & F.A. Brockhaus AG (Duden)“, „Bertelsmann Lexikon Verlag“, „Grammatisches Telefon TU Aachen“, „Grammatisches Telefon Uni Potsdam“, „Sprachberatung Uni Halle-Wittenberg“, „Schreibwerkstatt Uni GH Essen“, „Sprachbüro Oldenburg“ und „Haus des Buches“ sowie weitere diverse „Sprachberater“. Die Suchanfrage „Sprachberatung“ ergab in Google ca. 3 000 Treffer. Dieses Angebot der passiven Sprachpflege nimmt aber nur derjenige in Anspruch, der die Information sucht, weil er im Zweifel (= Quelle der Erkenntnis) ist und auf den richtigen sprachlichen Ausdruck wert legt. Vor allem vom Duden erwartete man am ehesten eine Sprachaufklärung. Doch der war (und ist weiterhin) auftragsgemäß nur mit dem Zählen der Wörter der Umgangssprache befaßt und bemüht, möglicht oft neue Wörterbücher herauszugeben (offener Brief an den Duden und Leserbrief in der F.A.Z „Der Duden zählt nur Wörter“). Seine Lexikographen stellen laut Auskunft der Sprachberatungsstelle den Sprachgebrauch vor die Richtigkeit. Und bei Anfragen schöpft die Sprachberatung ihre Erkenntnisse aus dem „Duden“.

Seit dem Jahre 2000 erscheint in Deutschland die „Deutsche Sprachwelt“ als „Plattform für alle, die Sprache lieben“ mit sprachkritische Beiträgen und Anregungen zu klarem Deutsch. Österreich kann auf eine wesentlich längere sprachpflegerische Tradition zurückblicken. Der Verein „Muttersprache“ in Wien verfolgt mit seiner „Zeitschrift für gutes Deutsch“, die „Wiener Sprachblätter“, das gleiche Ziel wie die Deutsche Sprachwelt.

Das Angebot an Sprachaufklärung kann noch so vielfältig sein, seine Wirksamkeit hängt von der Nutzung ab und die wiederum vom Bedürfnis. Solange das nicht geweckt wird, vorrangig in der Schule, und zwar mit sprachkompetenten Lehrern, geht die deutsche Sprache weiter den Bach hinunter.

8. Die Sprechpflege
„ Sprache“ und „Sprechen“ werden immer als identische Begriffe der Kommunikation behandelt. Das kommt auch in der Suchanfrage mit „Sprechpflege“ zum Ausdruck, die nur 27 Fundstellen bringt, die sich alle mit akustischen Problemen befassen. Auch die vielen verdienstvollen Bemühungen um die Erhaltung einer einheitlichen Rechtschreibung gehen am Sprechen vorbei und richten sich nur auf die schriftliche Form des sprachlichen Ausdrucks. Doch es gibt mehrere Gründe dafür, der gesprochenen Sprache mindestens die gleiche Aufmerksamkeit zu widmen wie der geschriebenen. Die gesprochene Sprache bildet die Grundlage jeder Schreibung. Wer Sprachpflege betreiben will, muß daher beim Sprechen anfangen zu „pflegen“. Diese Sprechpflege kann den alltäglichen und hauptsächlich akustischen Gebrauch der Sprache nachhaltig beeinflussen. Da beim Sprechen die Schreibung überhaupt keine Rolle spielt, kann sich diese Pflege auf die Wortwahl beschränken. Die meisten deutschsprechenden Leser kümmert oder sie bemerken es nicht, ob ein Wort mit Doppel-s, scharfem s oder mit Dreifach-f geschrieben ist, erst recht dann nicht, wenn sie der Text fesselt. Dagegen können falsche, mißverständliche und ungenaue Wörter und Begriffe weitreichende Fehlinformationen bewirken mit entsprechenden schmerzhaften und teuren Folgen, besonders in den Bereichen Medizin, Naturwissenschaften, Technik und Rechtswesen (Zivil, Straf- und Patentrecht).

9. Plausibilität
Die gehörte Sprache, das Sprechen, läßt im Zweifelsfall keine optische Kontrolle, nur selten eine Nachfrage zu, um Mißverständnisse zu vermeiden. Der aufmerksame Leser darf rätseln oder vermuten. Unklare oder mehrdeutige Textstellen (z. B. in Vorträgen und Funk- und Fernsehsendungen) sind nicht wiederholbar, um zu prüfen, was der Sprecher sagt und meint. Beim Sprechen und Hören ist somit eine richtige und klare Aussage wichtiger als beim Schreiben. Das gilt sogar für die häufig mißverständliche Zusammenschreibung. Der unterschiedliche Wortsinn ist im Gegensatz zum geschriebenen Ausdruck jeweils sofort durch die Betonung erkennbar. Was nützt ein richtig geschriebenes Wort, wenn es ein falsch gewähltes ist. Erst wer weiß, wie er was sagen kann, vermag die rechte Schreibung zu wählen.

10. Eindeutigkeit
Eine zwar in falscher oder in abgelehnter Schreibung, jedoch mit falschem und/oder mißverständlichem Ausdruck geschriebene Information kann immer beliebig oft (nach)gelesen und im Zusammenhang mit dem Kontext mehr oder weniger erfolgreich zum Deuten der Aussage benutzt werden. In der F.A.Z. wurde kürzlich zum Thema Rechtschreibreform die Frage gestellt „Schreiben wir, um einander Rätsel aufzugeben oder um einen Sinn möglichst unzweideutig zu vermitteln?“ Mit einem rechtschreiblich bedenklichen Text vor sich läßt sich vielleicht noch ermitteln, was gemeint ist. Aber beim gehörten Text, ohne Rückfragemöglichkeit, ist der Zuhörer chancenlos. Er darf sich als Sprachdetektiv betätigen.

11. Das Defizit
Das Problem entsteht und wächst mit dem Menschen. Bereits beim Lernen der Sprache, d. h. des Sprechens, beginnen die Defizite im Gebrauch der Sprache. Eltern und Lehrer übernehmen gedankenlos, was Politiker, Moderatoren und Autoren der Funk- und Druckmedien verbreiten. Niemand sagt ihnen, was richtig und was falsch ist. Die Grundlage steht, um die Sprachschlampereien zu verfestigen, neue werden mit dem Stolz eines Sprachpioniers geschaffen.

12. Das stumme Sprechen
Was vielen Lesern nicht bewußt ist: wir sprechen beim Lesen eines Textes die einzelnen Wörter aus, jedoch ohne den Mund zu öffnen und ohne einen Laut von uns zu geben. Der Gehirnforscher Gerhard Roth nennt dies „inneres Sprechen“, das er mit „Denken“ gleichsetzt. Er meint, „denken ist zwar auch nichtsprachlich möglich, aber es besteht kein Zweifel, daß sprachliches Denken nichtsprachlichem stark überlegen ist.“ Es gleicht der Frage mit der Henne und dem Ei. Denken wir, weil wir innerlich sprechen oder sprechen wir (innerlich), weil wir denken. Beides findet gleichzeitig statt. Das Gehirn artikuliert die gelesenen Wörter genau so wie wir uns Handlungen und Gesichter vorstellen. Wir wandern und fahren Auto im Geiste, sei es im Wachzustand oder im Traum. Sowohl die gehörte als auch die gelesene Information löst im Gehirn das Denken im weitesten Sinne aus und ist die Grundlage für den zu verstehenden Sinn und die daraus abgeleiteten gedanklichen und körperlichen Folgen. Das gilt sowohl für die einzelnen Wörter als auch für Worte mit ihrem sinnlichen Zusammenhang. Falsche Wörter und Begriffe bewirken daher unabhängig von der Schreibung im Extremfall eine folgenreiche Sinnverfälschung. Eine falschen Schreibung, von markanten Sonderfällen abgesehen, kann nicht die gleichen negativen und unangenehmen Folgen auslösen wie eine falsche Wortwahl. Abhängig von der Empfindlichkeit des Lesers besteht die Gefahr weitreichender Fehldeutungen der Aussage. Eine falsche Schreibung bewirkt allenfalls eine parallellaufende und meistens harmlose Irritation, die jedoch die Aussage des Textes nicht wesentlich und folgenreich beeinflußt. Beim Auswendiglernen hilft es, den (hoffentlich richtigen) Text laut zu sprechen, was die Wirkung auf das Gehirn verstärkt, weil die zusätzliche akustische Information durch Betonung, Tonhöhe und dergl. hilft, im Gehirn Verknüpfungen zu schaffen, die das Sicherinnern an den Text erleichtern.

13. Die Auffälligkeiten der neuen Schreibung
Ältere Leser stört die neue Rechtschreibung unterschiedlich stark, falls überhaupt. Sie schreiben wie gewohnt, mit oder ohne Bedenken und selten fehlerfrei. Der durchschnittlich gebildete Bürger kennt die neuen Regeln nicht. Den meisten fallen nur die ss-Schreibung (ca. 90 % der Fälle), wörterentstellende PC-Trennungen (die auch ohne Reform auftreten) und die manchmal mißverständlichen Getrenntschreibungen auf. Es mag rechtschreibbewußte Leser geben, die jede Neuschreibung stört, andere wehren sich gegen das Gewohnte, schon deshalb, weil der öffentlich ausgetragene Streit sie sensibilisiert hat. Gerade bei diesen scheint die Reizschwelle für die vielen Sprachschnitzer und –schlampereien ziemlich tief zu liegen oder zu gänzlich zu fehlen.

14. Kuam uz galuebn
Ncah enier nueen Sutide, dei uetnr aerdnem von der Cmabirde Uinertvisy dührruchgeft wrdoen sien slol, sit se eagl, in wlehcer Rehenifloge Bcuhstbaen in eneim Wort sethen; huaptschae dre esrte ndu dre ltzete Bshcuteba snid na dre rheitgien Sletle. Sagor dasie Bingedgun knan fellan, wei dsa Biepiles zgiet!!! Wrüde deiesr Txet bcuhstbaegeeteru vogreleesn, neimnad vesrtädne ihn. Dsa beiwset, wie wineg wicthig egietnlcih die Scrhebinug zmu Vresätndins enies Tetxes sit.

15. Lasche Sprachpflege
Ein Beispiel für die halbherzige Realisierung von Sprachpflege liefert ausgerechnet ein Verein, der sich einerseits vehement gegen die Reform wendet und andererseits das Wort „Sprachpflege“ im Vereinsnamen führt. Auf seiner Internetseite trotz Hinweises nach wie vor in nur drei kurzen Zeilen Text zwei Wörter falsch geschrieben sind („Auch der Internet Exploder sollte Sie (gemeint sind Seiten) korrekt darstellen“.) Außerdem wird an gleicher Stelle mit den zwei "pseudofähigen" Wortschöpfungen „grafik- und framefähig“ (statt grafik- und framegeeignet oder –tauglich) die allgemein übliche Verfähigung deutscher Hauptwörter gefördert.

16. Hauptsache richtig geschrieben
Auch die Auffassung eines der aktivsten und schreibsprachlich verdienstvollen Reformgegner, meine Kritik an der immer öfter verwendeten und zu einer schwammigen Floskel verkommenen Redewendung „davon gehen“ (ich gehe; er, sie es geht; wir, Politiker, Behörden, Institutionen und fast alle gehen davon aus, daß ...)" sei überflüssig, läßt mich zweifeln, ob er als anerkannter Fachmann der deutschen Sprache die notwendige Wirkungsbreite von „Sprachpflege“ erkannt hat. Offenbar schauen manche Rechtschreibreformgegner durch eine orthographische Brille, die die Empfindlichkeit für klare Sprache ausfiltert. Falsche Wörter werden toleriert, solange sie "richtig" geschrieben sind.

17. Wen kümmert es ..
Ähnlich ignorant reagierte ein Redaktionsleiter im Bayerischen Rundfunk, der anfangs meine Sprachkritik begrüßte, nach wiederholten Hinweisen auf immer die gleichen Fehler jedoch empfindlich reagierte und den sprachlichen Unsinn plötzlich mit dem „Wandel der Sprache“ verteidigte.

Die Süddeutsche Zeitung bestätigte zwar die Bedenklichkeit der Wendung „Das Kreuz mit den Worten“, obwohl es sich um Wörter handele. Doch die von ihr gewählte Formulierung gefiele ihr besser. Gegen die Vervielfältigungskraft einer Auflage von über 600 000 verkauften Exemplaren ist ein einzelner Sprachbewußter machtlos.

18. Warum die Aufregung?
Wen der Schreibereistreit nicht (mehr) berührt oder – salopp gesprochen, inzwischen zum Halse heraushängt, wird dem Kritiker der Reformkritiker Jens Jessen („Dudendämmerung“, ZEIT vom 10.08.2000) zustimmen, der die strittige Orthographie betreffend u. a. feststellte, „So wird gegen die Reform mit allem Pathos der Zivilgesellschaft zu Felde gezogen, als müsse ein Naturrecht gegen eine Diktatur verteidigt werden.“ Ferner „Die Aufregung um die Orthographie steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu der geringen Bedeutung, die Schreibweisen für den tatsächlichen Gebrauch und die tatsächliche Entwicklung einer Sprache haben.“ Zweifellos meint Jessen hiermit Schreiben und Lesen und nicht Sprechen und Hören, also Sprachvermittlungsarten ohne die Funktion einer Orthographie.

19. Sprachliche Bedrohung?
Dagegen prangert Hans Krieger in „Von der Steigerbarkeit der Willkür“ (SZ v. 21.08.2000) die Reform an und verweist auf den § 36 des Reformwerks, der die Getrennt- und Zusammenschreibung regelt. Es wiederhole sich hier, was schon bei der Diskussion um die Einführung der Reform zu beobachten war: die Verwechslung von Qualität mit Quantität. Krieger weiter: „Nur ein kleiner Bestand des Gesamtwörterbestandes war von der Neuschreibung tatsächlich betroffen, doch die Änderungen schnitten in Nervenpunkte des Sprachlebens. Weil sie in Wortbildungsprozesse gewaltsam eingriffen und teilweise die Grammatik mißachteten, waren die Auswirkungen verheerend: Vernichtung von Wörtern und damit von Ausdrucksvielfalt; sprachliche Entdifferenzierung: Verunsicherung bis Lähmung des Sprachgefühls. Ein paar Mikrogramm sind eine lachhaft winzige Menge; bei einem Gift, das schon im Nanogrammbereich lebensbedrohlich wirkt, sind sie verdammt viel.“

20. Dauerzustand: Verhunzung der Sprache
Wortbildungsprozesse? Mißachtung der Grammatik? Werden nicht beim Verhunzen der deutschen Sprache falsche Wörter gebildet, richtige verunstaltet und die Grammatik ignoriert? Die deutsche Sprache dümpelt schon seit Jahrzehnten in einem trägen Strom von Sprachschlampereien dahin. Ständig werden in Wort und Schrift mehrfach und mehrmals, scheinbar und anscheinend, die ganzen und alle, derselbe und der gleiche, Worte und Wörter verwechselt. Der falsche und häufig unsinnige multiplizierte Komparativ, besonders seine Negation gehören zum Standardwortschatz. Verbalsubstantiv und substantiviertes Verb sind unbekannte Wortbildungen und bleiben schon deshalb unbeachtet. Vor allem die unbegrenzt erzeugbaren, mit dem Suffix „fähig“ gebildeten und „dudenfähigen“ Pseudofähigkeiten (zukunftsfähig, mehrheitsfähig, waffenfähig, bombenfähig, medikamentenfähig, riesterfähig, rentenfähig, BTX-fähig, reformfähig, PC-fähig, antennenfähig usw. bieten unbegrenzt erweiterbare Verhunzungsmöglichkeiten. Die Häufigkeit, mit der diese und andere Fehler, auch in Übersetzungen verbreitet sind, nimmt zu. Eine diesbezügliche umfassende Aufklärung fehlt nach wie vor.

21. Bremsen zwecklos
An wohlmeinenden Bremsversuchen hat es in den vergangenen 50 Jahren nicht gefehlt. Immer waren es einzelne, die ihre warnende Stimme erhoben und die gängigen Floskeln und Blasenwörter sowie den täglich produzierten Sprachmüll mißbilligten. So beklagte Gustav Adolf Bischoff schon im Jahre 1948 (Zeitschrift „Denkendes Volk“) den zunehmenden Gebrauch von Fremdwörtern und Sammelbegriffen (Schwammwörter), „die nur Richtungen andeuten, denen im einzelnen aber jede Zielsicherheit fehlt.“ Am selben Ort und zur selben Zeit kritisierte Herbert Vincent den Umgang mit Fremdwörtern. Seiner Meinung nach muß „der Gebrauch glatt ersetzbarer Fremdwörter als eine Gedanken- und Rücksichtslosigkeit gelten" Weitere Stimmen Lutz Mackensen wandte sich gegen die Sprachunarten der Zeit, Dagmar Deckstein forderte eine Sprachhülsen-Verpackungsverordnung, Wolf Schneider empfahl, einiger Wörter aus dem Wortschatz zu streichen.

Noch ein letztes Beispiel: Dieter E. Zimmer (DIE ZEIT v. 17. April 1981) schrieb in seinem Artikel „Von Schlaffis, Schmusis und Schleimis“ u. a. „Sie ist ein ständiger Stein des Anstoßes: die Sprache, die verdorben und verhunzt wird. Ungerührt von solchen Entrüstungen verkommt und verfällt sie jedoch unablässig weiter.“ (Weitere Stellungnahmen) Gelingt es einmal, einen Sprachfrevler zu bekehren, steht bald eine anderer an seiner Stelle. Und einflußreiche Redakteure beharren auf ihren sprachlichen Fehlleistungen und begründen sie mit der „natürlichen Entwicklung der Sprache“.

22. Wir brauchen einen Sprach-Knigge
Fachbücher über die deutsche Grammatik verwirren den Ratsuchenden mehr als sie ihm Hilfe für den täglichen Gebrauch der Sprache geben. Der Sprecher der Gesellschaft für deutsche Sprache, Horst Dieter Schlosser, plant seit längerem in Buch „Deutsch für Deutschlehrer“, worin er die Bläh-, Beamten- und Jugendsprache, falsche Grammatik, Anglizismen und den fehlenden Wortschatz kritisch erläutern will (Rhein-Neckar-Zeitung vom 29./30.11.03). Schlossers Buch könnte die Lücke in der Sprachaufklärung füllen und ein wesentlicher Bestandteil eines Sprachknigge werden, der analog dem "Knigge" für den Umgang mit Menschen leicht verständliche Regeln und Beispiele für die sprachliche Verständigung bietet sowie hilft, den alltäglichen Sprachmüll zu erkennen und zu vermeiden. Mein Vorschlag für zusätzliche Themen: „Deutsch für Kinder“, „Deutsch für Eltern“, „Deutsch für Politiker“, „Deutsch für Beamte“, „Deutsch für Ausländer“, möglichst als Pflichtlektüre in Schulen und für die betroffenen Gruppen, und zwar in Ergänzung Wolf Schneiders Bücher „Deutsch für Kenner, „Deutsch für Profis“ und „Deutsch fürs Leben“. Doch was tun, wenn diese Bücher niemand liest? Der Bayerische Rundfunk leistete sich eine Zeit lang einen "Sprachpfleger". Der schickte regelmäßig Sprachkritiken an den Sender. Aber die wurden von den Redaktionen nicht beachtet.

23.Neuregelung der deutschen Rechtschreibung
Vorlage für die Sitzung der Amtschefskommission"Rechtschreibung“ am 05.02.2004

Das besagte Schreiben nimmt auch zu den Inhalten des bislang unveröffentlichten
4. Berichtes der Zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission Stellung.

hier: Beschlussfassung zum 4. Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für
deutsche Rechtschreibung und zum weiteren Verfahren

Übersicht
I. Stand der Reform
II. Die Kommission und ihre Berichte
III. Inhalt des Berichts
...a) Laut-Buchstaben-Zuordnung
...b) Getrennt- und Zusammenschreibung
...c) Schreibung mit Bindestrich
...d) Groß- und Kleinschreibung
...e) Zeichensetzung und Silbentrennung
...f) Fazit
IV. Künftige Arbeit und Kompetenzen der Kommission
V. Beschlussvorschlag

Der ausführliche Text kann hier abgerufen werden.

Wiener Sprachblätter zur Rechtschreibreform
Zeitschrift für gutes Deutsch 

 
geändert September 2005

 



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