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Gehirn - Geist / Artikel Singer / Zu "Wer deutet"
 

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Stellungnahme zu „Wer deutet das Denken? 
 Interview mit Wolf Singer und Wolfgang Prinz (DIE ZEIT vom 14.07.2005)


Von Ingo-Wolf Kittel, Augsburg   

Herr Singer beklagt, dass "Trittbrettfahrer ... auf der Welle", die er und sein Bremer Kollege Roth ausgelöst und immer wieder mit Thesen der Art angetrieben haben, dass die Wirklichkeit "eine Konstruktion des Gehirns", der Autor dieser Behauptung "ein Konstrukt" seines eigenen sei und Aussagen "der Hirnforschung" einem "Frontalangriff auf unser Selbstverständnis und unsere Menschenwürde" gleichkämen, "nicht immer zur Versachlichung der Diskussion beitragen." Wenn er damit darauf hinweisen will, dass diese Diskussion bisher durch Unsachlichkeit gekennzeichnet sei, kann und soll dem nicht widersprochen werden. Bliebe lediglich zu klären, von welcher Seite Unsachliches in diese Auseinandersetzung eingebracht worden ist.

Herr Prinz und seine Kollegen scheinen solches bei dem Klagenden selbst und dessen Kollegen zu sehen. Konstatieren sie doch, dass Hirnforscher - nach Prinz jetzt sogar "häufig" - unsachgemäß mit ihren Daten umgingen, wenn sie die Ergebnisse ihrer Korrelationsanalysen fälschlicherweise kausal deuten und damit deterministisch interpretieren. Sollte dieser Vorwurf zutreffen, hätte sogar die gesamte Debatte um "die Hirnforschung" damit zu tun, soweit sie mit Behauptungen von Herrn Singer und gleichgesinnten Kollegen in Zusammenhang stehen.

Denn es ist nicht zu übersehen, dass er wie auch Herrn Roth zwar ständig im Namen 'der' Hirnforschung auftritt, realiter jedoch immer nur für diejenigen ihrer Vertreter spricht, die genau diese kausale oder deterministische Deutung von hirnphysiologisch erhobenen Daten favorisieren. Überraschend ist dabei nur, dass just Herr Prinz als Kritiker dieses auch von vielen anderen bemerkten und schon lange kritisierten Tatbestandes auftritt. Vertritt er doch selbst einen strikten 'prinzipiellen' Determinismus. Allein wegen dieser Überzeugung muss er - wie jetzt auch wieder in dem Gespräch - die dazu in Widerspruch stehende tägliche Erfahrung von Jedermann, in seinem Denken und Handeln bis hin zu jederzeit möglichen Irrtümern in bemerkenswert großem Ausmaß "frei und unabhängig" zu sein, zu einer Illusionen 'erklären'.

Auch die bisherigen Thesen von Herrn Singer scheinen nur in deterministischer Fassung von Bedeutung zu sein. Ihn selbst bewegen sie beispielsweise, seit dem vergangen Jahr in der F.A.Z. und anderenorts dazu aufzurufen, "wir sollten aufhören von Freiheit zu reden." Eigenartigerweise begründet er seine auf ein Schweigegebot hinauslaufende Empfehlung, die einem immerhin noch die Möglichkeit lässt, wenigstens von Freiheit zu träumen, mit der Angabe: "Keiner kann anders als er ist." Eigentlich wäre daraus zu folgern, dass manche eben nicht anders können als von ihr zu sprechen - oder an sie zu denken und für sie zu kämpfen oder zu lernen, mit ihr vernünftig umzugehen, um sie beispielsweise nicht als simple Willkür auszuleben.

Sogar hirnphysiologisch ist fraglich, ob wirklich gilt, was Herr Singer als Begründung für seine öffentliche Forderung anführt: "Verschaltungen legen uns fest." Denn eine der gesichertsten Erkenntnisse der Neuro- bzw. Synapsenbiologie soll die als "Neuroplastizität" bezeichnete Tatsache sein, dass synaptische Verschaltungen sich auch über die im Interview erwähnte "Labilisierung " hinaus ständig verändern. Es ist wenigstens irritierend annehmen zu sollen, wir seien durch variable Synapsenverbindungen in unserem Hirn darauf 'festgelegt', zu tun und zu lassen, was wir so alles tun oder lassen – außer 'natürlich' auf die Tatsache, dass wir wegen unseres Gehirns darauf festgelegt sind, das zu sein, was wir sind: nicht nur lernfähige, sondern ab dem Kindergartenalter auch zunehmend bewusst erinnerungs- und damit vor allem denkfähige Menschen, die ihre individuelle Freiheit zuallererst und am deutlichsten als Gedankenfreiheit erleben und erfahren bis hin zu der Freiheit zu denken, nicht zu denken oder auch sich auszudenken, es gar nicht selbst zu tun!

Eigenartigerweise hat nämlich Herr Prinz trotz seiner Erfahrung als wissenschaftlich forschender Psychologe an keiner Stelle des Interviews die psychologischen Vorstellungen angesprochen, von denen Herr Singer und seine Kollegen in ihrem Denken ausgehen. Sie dokumentieren sie In ihrem MANIFEST vom Herbst letzten Jahres, auf das er mit seinen Kollegen reagiert hat; denn dort präsentieren sie eine Art Neuroversion von Psychologie. Danach sollen es unsere Hirne sein, die wahrnehmen, sich erinnern und erleben. Sie nehmen sogar an, dass es das Gehirn ist, das "zukünftige Aktionen plant".

In demselben Satz erklären sie aber auch, sie verstünden "nicht einmal in Ansätzen", wie dieses zentrale neuronale und hormonelle Integrations-, Koordinations- und Regulationsorgan unseres Körpers dies überhaupt macht - wenn man es schon als eine Art von Subjekt ansieht, das etwas von sich aus 'macht'. Sie stellen deswegen nüchtern fest: "in dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern."

Für einen Psychologen wäre es naheliegend gewesen Herrn Singer zu fragen, wo die Wurzeln dieser aus der Warte der Psychologie 'cerebralen Pseudopsychologie' liegen, und wie sich ein derartig verfremdetes Denken in der Hirnforschung entwickeln konnte. Vor allem wäre der Frage nachzugehen, woher Hirnforscher überhaupt wissen, dass das Gehirn all das macht, was normalerweise jeder Mensch denkt, zwar 'mit' seinem Gehirn, aber doch 'selbst' zu tun, so wie wir auch 'mit' unseren Beinen gehen und nicht diese von sich aus loslaufen.

Gerade unter psychologischen Gesichtspunkten wäre es auch der Nachfrage wert gewesen, wie sinnvoll es ist, zwischen 'uns' und unserem Gehirn zu differenzieren, das als Teil von 'uns' recht besehen zu dem Ganzen gehört, was 'uns' ausmacht. Schon die wörtliche Bedeutung unseres Begriffs 'Individuum' könnte darauf hinweisen, dass der sprachlichen Ausdrucksweise, nach der wir von uns und unserem Gehirn reden können, keine reale Trennung oder Spaltung zwischen uns und unserem Körper oder gar einzelnen Organen von uns 'entspricht'.

Außer man ginge in der Hirnforschung von einer noch fragwürdigeren 'Psychologie' aus oder besser gesagt von der nur scheinbar psychologischen 'Annahme', dass 'wir' überhaupt etwas anderes sind, als 'unser Körper', von dem das Gehirn ein 'Teil' ist. Tatsächlich kommen Singers australischer Kollege Max R. Bennett und der Oxforder Philosoph Peter M. S. Hacker in gründlichen Untersuchungen, die sie vor zwei Jahren in ihrem Buch "Philosophical Foundations of Neuroscience" publiziert haben, zu dem Ergebnis, der heutigen Hirnforschung liege ein unbemerkter und unerkannter Cartesianismus zugrunde. Hirnforscher, die auf dieser Grundlage ihre registriertechnisch gewonnenen Daten deuten, würden danach heute noch in jedem Sinn dieses Begriffes 'unbewusst' und wider ihre eigenen Intentionen von obsoleter spekulativer Metaphysik statt von wissenschaftlich einwandfrei begründeten Voraussetzungen ausgehen.

Seit einem Jahrhundert wissen wir ohne jede Hirnforschung aus genauer psychologischer Analyse, dass unbewusste Einstellungen in psychodynamisch wirksamen Konfliktkonstellationen gesundheitliche Auswirkungen haben können. Im Hinblick darauf wären die nachhaltigsten Nachfragen von Prof. Prinz zu wünschen gewesen.

In einem anderen Interview hat Prof. Singer nämlich vor drei Jahren erklärt, sein Denken bedeute für ihn selbst "ein ständiges Problem" und damals ergänzend hinzugefügt, er lebe "gewissermaßen als dissoziierte Person." Am Beispiel seines Umgangs mit seinen Kindern erläutert er in diesem Gespräch, wie sehr er seine wissenschaftlichen Überzeugungen als widersprüchlich zu seinem - wie er dort bemerkenswerterweise angibt: "reflexhaften" - Reagieren im Alltag erlebt. Überraschend ist nur, dass er dort diesen "Selbstwiderspruch" zwischen seinem persönlichen Denken und Tun zu einem scheinbar allgemeinen "Konflikt zwischen zwei Erfahrungswelten" überhöht und ohne weitere Erklärung verallgemeinernd behauptet, seinen individuellen, persönlichen Konflikt "müssen wir aushalten, so als glaube er, (." Als wenn er davon ausgeht,) dass jedermann so denken würde wie er und noch dazu nichts gegen die Auflösung von Selbstwidersprüchen tun könnte und tun würde.

Das "Aushalten" eines persönlichen inneren Konfliktes als notwendig hinzustellen und noch dazu mit der Autorität eines auf seinem Gebiet anerkannten Wissenschaftlers und Arztes, der Herr Singer auch ist, zu behaupten, das müssten wir nach seinem Vorbild alle tun, kann im Hinblick auf dissoziative oder andere psychopathologische Auswirkungen und damit unter gesundheitspolitischen Aspekten nur als bedenklich bezeichnet werden.

Nicht auszuschließen ist, dass derartige Formen 'neuro'-wissenschaftlichen Denkens tatsächlich zu dem führen, was in jenem Interview der Mainzer Philosophieprofessor Thomas Metzinger auf derselben Grundlage meinte feststellen oder prophezeien zu können: "Die Hirnforschung verändert in dramatischer Weise unser Menschenbild und damit die Basis unserer Kultur."

Dann könnte zu diesen dramatischen Veränderungen auch die Unterminierung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung gehören.

Ingo-Wolf Kittel
Facharzt für Psychother. Medizin
Augsburg

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