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Sprache / Artikel zur Sprache XXXXXXXXXXXXXXXXXXXX / 118. Unwörter
 

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ÜBER 500 JAHRE "Unwort"
Von Horst Dieter Schlosser

 

In der Einleitung wird auf das von den Brüdern Grimm begründete „Deutsche Wörterbuch“ hingewiesen, worin bereits für das Jahr 1473 einen Beleg für Unwort mit der Bedeutung „beleidigende, verletzende Äußerung“ verzeichnet sei. Es deute Unwort nicht nur als „Wort, das es nicht gibt“, sondern auch als „Wort, das es nicht geben sollte“. Die Vorsilbe Un- sage auch sonst, dass es Dinge durchaus gibt, aber nicht geben sollte, weil sie Normen verletzen, zum Beispiel in Un-ding, Un-sitte oder Un-zeit.

Dieser Aspekt habe den Gebrauch von Unwort schon in sprachkritischen Betrachtungen bestimmt, bevor 1991 die sprachkritische Aktion „Unwort des Jahres“ ins Leben gerufen wurde. Ein „Unwort des Jahres“ werde auf der Grundlage von Vorschlägen gewählt, die alle Deutschsprachigen im In-und Ausland dem Autor als Sprecher einer Unwort-Jury machen können (zum Verfahren). Von dieser Möglichkeit hätten bisher weit über 10.000 Bürgerinnen und Bürger aus allen Schichten der Bevölkerung Gebrauch gemacht.

Die Idee dieses Lexikons

Dieses Lexikon dokumentiere kritikwürdige Wörter und Formulierungen, die bei der exemplarischen Wahl einiger weniger aktueller Jahres-Unwörter seit 1991 nicht zum Zuge kommen konnten. Und es seien auch schon lange vor der Unwort-Aktion immer wieder einzelne Wörter und Wendungen gebraucht worden, die besser nicht ins öffentliche Sprachleben gelangt wären.

Der Missbrauch der Sprache mit dem Ziel, Menschen hinters Licht zu führen oder zu verletzen, lasse sich im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte weit zurückverfolgen. Der Autor habe sich bei der Auswahl der Stichwörter vorgestellt, welche Wörter oder Formulierungen in früheren Zeiten hätten kritisiert werden müssen, wenn es die Unwort-Aktion schon vor 1991 gegeben hätte. Manches davon sei inzwischen historisch geworden und habe seine Aktualität verloren. Aber es habe zu seiner Zeit die öffentliche Kommunikation, das Denken und Handeln gleichfalls belastet und nicht selten sogar extrem negativ beeinflusst.

Die hier vorgestellten Unwörter würden weit überwiegend dem 20. Jahrhundert entstammen, so Schlösser. „Das könnte den Eindruck erwecken, es ginge mit der Sprache immer schneller bergab. Diesem Vorurteil sollte man als Sprachkritiker auf keinen Fall erliegen. Denn immer noch können die meisten Äußerungen als sachlich angemessen, ehrlich und menschenfreundlich bewertet werden. Dass die Menschen in früheren Jahrhunderten sprachlich keineswegs rücksichtsvoller miteinander umgegangen sind, dass sogar manches, was man für aktuell halten möchte, schon sehr viel älteren Ursprungs ist, können einzelne Belege bezeugen, die teilweise sehr weit vor 1900 datiert werden müssen.“

Eine solche Auswahl sei naturgemäß subjektiv, das Gleiche gelte auch für die Einteilung in zwölf „Sachgruppen“. Die Grenzen zwischen diesen Gruppen müssten auf jeden Fall als fließend angesehen werden.

MERKMALE EINES UNWORTS

Die Absicht zu verletzen

Es gebe nur wenige „geborene“ Urwörter, also solche, die als Schimpfnamen schon zum Zweck der Beleidigung erfunden wurden. Zu Unwörtern würden viele Wörter erst durch die negative Absicht, mit der sie in konkreten Zusammenhängen benutzt werden.

Die Absicht zu verletzen beim Gebrauch bestimmter Wörter und Formulierungen müsse als das wichtigste Kriterium für die Bestimmung eines Unworts gelten. Ganz „normale“ und in anderen Zusammenhängen durchaus unanstößige Wörter könnten zu Unwörtern werden, zum Beispiel das Wort Wohlstandsmüll, das erst zum Unwort wird, wenn damit Menschen und keine Dinge bezeichnet werden. Unwort-Kritik sei in einem solchen Fall nicht Kritik am Wort, sondern am jeweiligen Sprecher.

Der Mensch als Sache und als Katastrophe

Viele Urheber oder Verwender verletzend eingesetzter Wörter redeten sich, wenn sie namentlich ertappt werden, gern damit heraus, dass sie die kritisierte Äußerung gedankenlos getan hätten. Wenn es sich nicht nur um eine „Schutzbehauptung“ handele, möge das sogar stimmen. Aber erst der Überblick über eine größere Menge an Beispielen offenbare, dass gerade ein gedankenloser Gehrauch oftmals unguten Traditionen folge, die sich teilweise schon sehr tief ins Sprach(unter)bewusstsein eingenistet haben.

Dazu zähle die üble Gewohnheit, Menschen sprachlich (und nicht selten auch im realen Umgang) als Sachen zu behandeln und damit zu erniedrigen. Eine solche Tradition lasse sich sehr gut an Unwort-Reihen wie Menschen-material, Schüler-material, Spieler-material oder Geburten-gut, Häftlings-gut, Patienten-gut verfolgen, die bereits in der Koppelung von Menschlichem mit toter Materie ihren Unwort-Charakter zu erkennen geben. Dasselbe gelte für Verbindungen mit Naturbildern, vor allem mit Bildern für Naturkatastrophen, wie sie sich in Unwörtern vom Typ Asylantenflut oder Rentner-schwemme zeigen. Hier erweise sich schon im inneren Widerspruch zwischen den Bestandteilen der Wortbildung die  Unangemessenheit und Inhumanität einer Bezeichnung.

Die Absicht zu täuschen

Ein wichtiges Kriterium der Unwort-Bestimmung sei die Absicht zu täuschen, indem Begriffe, die in ihrem Herkunftsbereich völlig akzeptabel sind, in bestimmten Zusammenhängen sachlich absolut unpassend eingesetzt werden und damit über wahre Sachverhalte täuschen.

Ein Beispiel sei der aus der Toxikologie, also der Wissenschaft von den Giften, stammende Begriff mindergiftige Stoffe. Seine Verwendung in einer öffentlichen Erklärung nach einem schweren Chemieunfall, der einen ganzen Stadtteil verseucht habe, lasse auf eine Täuschungsabsicht schließen. Denn die betroffenen Menschen seien in der Regel keine Toxikologen und wüßten meist nicht, dass auch mindergiftige Stoffe durchaus ein hohes Gesundheitsrisiko bergen.

Der Unwort-Charakter ergebe sich also auch in diesem Fall nur aus dem konkreten Zusammenhang. Eine generelle Tabuisierung des betreffenden Begriffs wäre unsinnig.

Schwierigkeiten mit Ironie

Ironische Absicht, auf die sich manche hinausreden, wenn man ihnen den Gebrauch eines Unworts vorwerfe, sei allerdings auch nicht immer eine hinreichende Entschuldigung. Ironie sei ein von der Rhetorik durchaus empfohlenes Stilmittel und belebt die Kommunikation. Ironie aus öffentlichen Äußerungen verbannen zu wollen würde zu Recht dem Verdacht humorloser „politischer Korrektheit“ anheim fallen. Problematisch sei jedoch die Verwendung von Ironismen, die sich von einem nachweislich inhumanen Sprachgebrauch nicht deutlich genug abheben. Insbesondere in Äußerungen für die Medien, die sehr verkürzt wiedergegeben werden können, sollte man mit ironischen Äußerungen vorsichtig umgehen.

„Die 1998 ironisch gemeinte Erwägung eines ärztlichen Standesvertreters, die deutschen Ärzte müssten sich bei weiteren Einsparungen im Gesundheitswesen überlegen, ob sie nicht ein „sozialverträgliches Frühableben fördern“ sollten, war nach Meinung auch vieler Ärzte höchst umstritten, zumal Frühableben bereits zur NS-Zeit ein durch Therapie- und Medikamentenentzug bewusst herbeigeführtes vorzeitiges Sterben von Patienten umschrieben hat. Hier wurde Ironie zum blanken Zynismus.“

Die Absicht zu beschönigen

Die Absicht, unangenehme Sachverhalte zu beschönigen, zumindest zu verniedlichen oder zu verschleiern, sei Ursache für die meisten der hier dokumentierten Unwörter, von antifaschistischer Schutzwall bis zuführen. Hier sei wiederum in erster Linie Sprecherkritik angebracht, obwohl viele Beispiele schon in der Wortbildung ihren Unwort-Charakter offenbarten.

Eine nicht seltene Untergruppe der Beschönigung seien Heroisierungen und religiöse Verbrämungen wie Heimatfront oder der Vergleich eines Militäreinsatzes mit einem Gottesdienst (Goebbels 1945). Dabei würden und werden teilweise noch heute tief sitzende Mythen oder religiöse Überzeugungen ausgebeutet. Auf diesem Feld sei neben der politischen Propaganda die kommerzielle Werbung Hauptproduzent von Unwörtern.

Die Produktwerbung scheine auf den ersten Blick nur relativ harmlose Beschönigungen zu erfinden. Aber die gar nicht so seltene Berufung religiöser Begriffe wie Gewissen, Reue oder Versuchung beweise, dass die Werbung wie die politische Propaganda auf der Klaviatur von un- und unterbewussten Werthaltungen zu spielen versteht.

Die verheerende Wirkung politischer Propaganda

Im Vergleich zur Werbung habe die politische Propaganda, zumal in den zurückliegenden Diktaturen, Unwörter hervorgebracht, die einzeln wie in ihrer Gesamtheit sehr schreckliche Folgen haben konnten, zum Beispiel die antisemitischen Hetzformeln vor und nach 1933 oder die Klassenkampf-Agitation in der DDR. In vielen Fällen lasse sich jedoch auch nachweisen, dass bereits lange vor den deutschen Diktaturen das Feld geistig wie verbal, durch Unwörter, bereitet war. Die NS-Herrschaft etwa habe sich gerade dadurch ausgezeichnet, dass sie schon seit langem umlaufende Unwörter wörtlich nahm und in Schreckenstaten umsetzte, zum Beispiel das schon im 19. Jahrhundert gebräuchliche Wort judenfrei.

Wer solche verbalen Vorgaben - und sei es auch nur gedankenlos - weiter benutze oder „kreativ“ abwandele (z.B. durchrasste Gesellschaft zur Schmähung ethnischer Vielfalt oder ausländerfrei in Sachbildung von judenfrei), trage zum Überleben des überwunden geglaubten Ungeistes bei.

Unwörter nach dem angeblichen „Tod der Ideologien“

Überblicke man die Unwörter des 20. Jahrhunderts, werde man schnell gewahr, dass nach dem Abschied von den zunächst mächtigen politischen Ideologien die Versuche keineswegs abgenommen haben, die Menschen durch Sprache in bestimmte Denkrichtungen zu drängen.

Die um sich greifende und durch zahlreiche Unwörter belegte Tendenz etwa, alles und jedes nur unter einem wirtschaftlichen Gesichtspunkt zu sehen und zu werten, könne durchaus als „neue Ideologie“ angesehen werden.

Aber auch die Wissenschaften, selbst die Naturwissenschaften, denen gern strengste Sachlichkeit zugeschrieben wird, setzten verstärkt Unwörter in Umlauf. Da die Wissenschaften grundsätzlich an Sprache gebunden seien, würden sie sich immer wieder in Leitbildern fangen, die von einzelnen Begriffen geprägt werden, von denen - bei Licht besehen - etliche als Unwörter gelten müssen, weil sie bestimmten Ideologien, nicht zuletzt der Ideologie totaler Machbarkeit der Welt, Vorschub leisten.

Ein sprachkritisches Grundprinzip

Eine simple Formel vom Typ „Unwort = x“ sei kaum möglich, wie überhaupt die Bedeutung eines Wortes von sehr verschiedenen Bedingungen abhängig sei. Alle angeführten Kriterien liefen indes auf ein vergleichsweise einfaches Prinzip hinaus, das der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein einmal so formuliert habe:

„Die Bedeutung eines Wortes ist die Bedeutung seines Gebrauchs.“ Ohne eine Analyse des Gebrauchs ist weder ein Wort noch ein Unwort in seiner Bedeutung zu bestimmen. Das aber heißt, dass man sich in jedem einzelnen Fall auf die Beziehung des Wortes zur bezeichneten Sache und damit vielfach auch auf die Sache selbst einlassen muss. Hier ist noch viel zu entdecken. Insofern versteht sich diese Sammlung als Anregung zu mehr Aufmerksamkeit und zu einem sensibleren Umgang mit der Sprache in der öffentlichen Kommunikation.

Horst Dieter Schlosser ist Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main. Er ist Gründer und Sprecher der Unwort-Jury, die jedes Jahr das „Unwort des Jahres“ kürt.

Verfahren der Unwort-Wahl

Unwörter der Jahre 1991 bis 2004 

Wort des Jahres 1971 bis 2005

 



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