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Sprache / Artikel zur Sprache XXXXXXXXXXXXXXXXXXXX / 68. Das Wohlergehen des Genetivs
 

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Das Wohlergehen des Genetivs

 

von Gottfried Fischer, WSB, 2005/3 
  
Die Verwendung des Genetivs gehe zurück, hört man in letzter Zeit nicht nur in Sprachpflegekreisen, ja bald sei es um ihn geschehen. Statt des Vaters Hut oder der Hut des Vaters sage man jetzt der Hut vom Vater oder gar dem Vater sein Hut, stellen die Freunde des 2. Falles fest. Es ist sogar ein Buch mit dem Titel „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod" erschienen (Besprechung); das Hauptthema des genannten Buches ist der Genetiv allerdings nicht).

Nun, ich als Schriftleiter der Wiener Sprachblätter bin sicherlich der letzte, der den furchterregenden Sprachverfall und Kulturverlust im deutschsprachigen Raum leugnet, und man muß den Sprachpflegern und -hütern, zu denen ich mich zähle, ja auch eine gewisse Überempfindlichkeit einräumen, sonst wären sie fehl am Platze, denn sie müssen Mißstände feststellen und bekämpfen, noch bevor sich diese ausbreiten und festsetzen und der Sprache schaden. Leider haben Menschen, die frühzeitig Mahnungen ausstoßen, auch manchmal recht. Der schönen Tochter Priamos', Kassandras, Warnung, die Griechen würden Troja zerstören, mochte niemand Glauben schenken, sie wurde für wahnsinnig gehalten. Leider bekamen auch die Sprachpfleger im 19. Jh., die glaubten, es drohe eine Überschwemmung des Deutschen mit Anglizismen, obwohl es damals nur eine Handvoll denglischer Ausdrücke gab, recht. - Beim Genetiv möchte ich aber doch vor allzu dramatischen Warnungen warnen.

Zunächst zur Form des Wortes: sicher haben sich schon einige Leser gewundert, daß ich die Form Genetiv verwende, obwohl Genitiv heute geläufiger ist. Im Lateinischen findet sich die Schreibung genitivus bei den Klassikern nicht, deswegen finde ich Genetiv besser (sie ist in der Sprachwissenschaft verbreitet).

Nun zum Hut des Vaters.- die Konstruktionen der Hut vom Vater und dem Vater sein Hut sind durchaus nicht neu, sondern in manchen deutschen Mundarträumen seit langem beheimatet, neu ist nur die Verwendung der ersten im Fernsehen bei Unterhaltungssendungen. Während man sich in den sechziger Jahren bei Sendungen wie „Der Kommissar" mehr an die Hochsprache hielt (die Beobachtungen des Tatzeugen), neigt man jetzt immer mehr dazu, die Umgangssprache zu verwenden (die Beobachtungen vom Tatzeugen), und das beileibe nicht nur beim Genetiv. Dieser Umstand führt selbstverständlich ganz allgemein zu einem Rückgang der Verwendung des Wesfalls, da ja das Fernsehen Vorbildwirkung hat. Das gilt allerdings nicht für Sendungen mit offizieller Eigenart, beispielsweise die Nachrichten im staatlichen Fernsehen. Die Fügung mit von wurde übrigens auch schon früher bei Namen, die auf -s enden, gern verwendet, z. B. die schöne Tochter von Priamos.

Auch werden die starken, schwachen und gemischten Genetivendungen immer häufiger ausgelassen (die Rede des Minister, der Besuch des Präsident, die Funktion des Herz). Hier muß man allerdings drei Einschränkungen machen: das Tilgen der Endung kommt nicht sehr oft unmittelbar nach dem Geschlechtswort (Artikel) vor, sondern eher wenn das Hauptwort weit entfernt vom Artikel steht (die Rede des soeben in Köln angekommenen Arbeitsminister); zweitens: das Tilgen der Endung ist nicht kennzeichnend für den Genetivgebrauch, sondern folgt der allgemeinen Entwicklung, Endungen einzusparen (3. Fall: ich hole Geld aus dem Bankomat(en), 4. Fall: ich kaufe den Teddybär(en), Mehrzahl: das Gewicht der LKW(s)); drittens: die Tilgung der Endung erfolgt selbstverständlich nur dort, wo die Endung wegen des Artikels des eigentlich überflüssig (redundant) ist: der Wagen des Landwirtschaftsminister ist häßlich, aber verständlich, während Hilde neuer Wagen statt Hildes neuer Wagen nicht verstanden wird (diese Konstruktion ist sogar im Niederländischen, dessen Genetiv an sich ausgestorben ist, erhalten: vadersgeld „Vaters Geld"). Bei gewissen Ländernamen ist die Auslassung des -s übrigens schon lange üblich, vgl. des Tschad statt des Tschads, des Iran statt des Irans.

Im Mittelhochdeutschen gab es noch zahlreiche Zeitwörter (Verben), die den Genetiv verlangten (der Genetiv mein in Vergißmeinnicht ist heute ein Akkusativ: Vergiß mich nicht.), heute nur noch wenige, und sie gehören der gehobenen Sprache an: eines Mordes bezichtigen, sich eines Dinges bemächtigen> eines Toten gedenken. Hier wird der Genetiv aus Unkenntnis oft durch den Dativ ersetzt: heute gedenken wir dem Toten.

Die Verwendung des Genetivs ist also tatsächlich rückläufig, und zwar schon seit mittelhochdeutscher Zeit. Es gibt aber einige Erwägungen, die dagegen sprechen, daß der 2. Fall aussterben wird. Eine verschriftete Sprache ändert sich in ihrem Formenschatz (Morphologie) nur sehr langsam. Im geschriebenen Deutsch ist der Genetiv als Besitzanzeiger durchaus lebendig. Man nehme sich eine Zeitung und zähle, wie oft er auf jeder Seite vorkommt! Der Wesfall dient aber nicht nur der Besitzanzeige (die Gesetzesvorlage der Regierung), sondern steht auch nach Vorwort (Verhältniswort, Präposition), und die Zahl der Vorwörter, die den Genetiv verlangen, ist im Deutschen außerordentlich groß:

abseits, abzüglich, anläßlich, anfangs (ugs.), angesichts, anhand, anläßlich, anstatt, anstelle, antwortlich, aufgrund, ausgangs, ausschließlich, außerhalb, behufs, beiderseits, betreffs, bezüglich, binnen, diesseits, eingangs, einschließlich, exklusive, halber, hinsichtlich, infolge, inklusive, inmitten, innerhalb, jenseits, kraft, längs, längsseits, laut, mangels, minus, mittels(t), oberhalb, plus, rücksichtlich, seitens, seitlich, seitwärts, statt, trotz, um - willen, unbeschadet, unerachtet, unfern, ungeachtet, unterhalb, unweit, (ver) mittels(t), vermöge, vorbehaltlich, während, wegen, von - wegen, zeit, zufolge, zugunsten, zuzüglich, zwecks.

Einige dieser Präpositionen kommen nur im Amtsdeutsch vor, andere wirken veraltet, und bei manchen gibt es auch die Möglichkeit, von zu verwenden: unterhalb des Wasserfalls oder unterhalb von dem Wasserfall. Erstaunlich ist aber, daß einige Vorwörter vom Dativ zum angeblich aussterbenden Genetiv übergewechselt sind: trotz dem Befehl klingt heute veraltet, trotz des Befehls ist modern; in trotzdem oder mir zum Trotz sieht man noch, daß früher der Dativ verwendet wurde. Dasselbe findet sich bei während: an währenddem sehen wir, daß es einst mit Dativ stand; heute verlangt während in der Hochsprache hingegen den angeblich nicht mehr rüstigen Genetiv: während des Vortrags. Dieses Überwechseln zeigt, daß der Genetiv durchaus Lebenskraft besitzt.

Wir sehen also, daß der Genetiv zwar weniger oft als früher verwendet wird; die Zukunft kann niemand voraussagen, aber es spricht doch einiges dagegen, daß der Genetiv völlig aussterben wird:

1) Der Genetiv ist kürzer (ökonomischer) als der Dativ (vgl. der Hut des Vaters des Nachbarn - der Hut von dem Vater von dem Nachbarn). Dies ist in unserer schnellebigen Zeit sicher ein wichtiges Argument.

2) Die Eitelkeit der Textverfasser: die Wissenschafter, Berichterstatter usw. wollen zeigen, daß sie gehobenes Deutsch beherrschen, und der Genetiv gehört heute zur gehobenen Ausdrucksweise.

3) Die stützende Funktion des Amerikanischen; im Englischen ist der Genetiv wichtig, und Amerika ist heute unser sprachliches Vorbild.

4) Die bewahrende Kraft der verschrifteten Texte.

Kein Argument für das Überleben des Genetivs sind übrigens die vielen Umstandswörter, zusammengesetzten Wörter (Komposita), Redewendungen und Sprichwörter, in denen der Genetiv vorkommt (flugs, stehenden Fußes, Gutsverwalter, Rädelsführer, des einen Schaden - des anderen Nutzen), denn sie könnten weiterverwendet werden, auch wenn der Genetiv ausstürbe. Das ist in anderen Sprachen auch vorgekommen (vgl. den Lokativ im Lateinischen oder zusammengesetzte Wörter mit Wesfall wie neutralitätsverklärung „Neutralitätserklärung" im Niederländischen); aber dennoch haben sie stüzende Funktion.

Wiener Sprachblätter

 



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