Darf die natürliche Entwicklung der Sprache so weit gehen, daß nicht nur neue Wortschöpfungen, von denen hier nicht die Rede sein soll, sondern auch neue Sinngebungen für bekannte Redewendungen toleriert werden müssen, die den bisher bekannten und anerkannten Sinn verdrehen? Gemeint ist die neue Wendung davon ausgehen, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut. Und das, obwohl sie verbal aufgebläht ist und keine Differenzierungen zuläßt. Sie klingt - jedenfalls im Moment, weil neu - interessant. Keinem der nachsprechenden Ausgeher ist bewußt, daß diese Redewendung, inzwischen zur Floskel verkommen, in der ihr neu aufgezwungenen Bedeutung keine klare Aussage enthält und die Verständigung untereinander erschwert. Sie trifft den jeweils vorliegenden Sachverhalt, soweit aus dem Kontext erkennbar, nicht oder sehr ungenau. Und je mehr Leute diese Modefloskel benutzen, um so weniger macht sich der Einzelne darüber Gedanken und fühlt sich offenbar glücklich, künftig ebenfalls so oft wie möglich "auszugehen", von was auch immer.
So hat sich die deutsche Ausgehwelle bereits zur Massenbewegung entwickelt und findet täglich weiteren Zulauf. Nichts und Niemand kann die Deutschen aufhalten, auszugehen. Vorbild geben die Regierung, Institutionen, Politiker, Prominente, Moderatoren. Auch sie gehen aus: Richter, Anwälte, Polizei, Behörden, Forscher, Experten, Bürger und Gruppen aller Art. "Man" geht aus, "es" wird ausgegangen und sogar Schätzungen sind schon beim Ausgehen beobachtet worden, zu beliebigen Tages- und Nachtzeiten, von allem möglichen und jeweils mit unbekanntem Ziel. Niemand sagt, wohin er geht. "Ja, wo laufen sie denn?", möchte man fragen. Ist da überhaupt noch jemand da? Doch das Erstaunliche ist, keiner geht weg, jeder bleibt, wo er ist. Es besteht nämlich keine Veranlassung auszugehen. Die Ankündigung auszugehen täuscht einen Sachverhalt vor, der nicht vorliegt und erweckt eine Erwartung, die nicht erfüllt wird - nicht erfüllbar ist, weil dafür die Voraussetzung fehlt.
Kurz gesagt: Man kann zwar (davon) ausgehen, jedoch nur dann, wenn mit "davon" eine Tatsache, Behauptung, Annahme, Vermutung und dergl. bezeichnet wird, und - das ist die zweite wichtige Voraussetzung - man muß die Folgerung(en) angeben. Sonst bleibt die Floskel, insb. durch das vorangestellte Adverb "davon" auf die bloße Bewegungsangabe (weggehen) beschränkt. Diese Auffassung wird in verschiedenen Wörterbüchern (Trübner, 1940, Duden, 1985, 1989 und 2000) bestätigt, wie die
Erläuterungen für "ausgehen" und "davon ausgehen" zeigen:
o seinen Ausgangspunkt, seine Ursache in etwas haben; o der Beweis geht von der Tatsache aus, daß .. ; o zum Ausgangspunkt nehmen, etw. zugrunde legen:du gehst von falschen Voraussetzungen aus; o bei etwas beginnen; o etwas zur Grundlage nehmen; o die Bewegung geht von diesem Punkt aus; o ich gehe bei meinem Plan davon aus, daß ... .
Die Beispiele belegen, daß jeweils der Beginn einer Überlegung (Ausgangspunkt) und ein Ende (Ziel) vorhanden oder mindestens in Aussicht gestellt sein muß. Von Annahmen, Vermutungen oder Erwartungen etc. ist in keinem der Nachschlagewerke die Rede. Nebenbei sei bemerkt, Gefahren, Gerüche, Strahlen etc. können von einem Ort ausgehen; auch Menschen können ausgehen, bspw. zum Essen, zu einer Party, ins Theater, um etwas zu erleben oder dergl.
Die neue Floskel davon ausgehen als Synonym für eine Vielzahl von Verben, wie sie unten aufgezählt sind, eignet sich gut zum Erhöhen der Zahl der Schwammwörter, die die deutsche Sprache alles andere als bereichern. Im Hintergrund lauert der Duden. Obwohl er bisher für das Verb ausgehen die richtige Auslegung dokumentiert hat, ist die Befürchtung begründet, daß er dokumentierversessen auch die neue und leider irreführende Bedeutung der Modefloskel "davon ausgehen" in seinen Wörterbüchern aufnehmen wird. Denn die umgangssprachliche Häufigkeit der Sprechblase ist derart auffällig, daß sie der Duden nicht übersehen und ignorieren kann - in seinem Sinne gesprochen: darf. Damit wäre ihr Schicksal besiegelt ist, das sprachliche Anerkenntnis zu erhalten, und zwar von der Institution, die sich anmaßend als "Die Instanz für die deutsche Sprache" bezeichnet.
Die Frage lautet dann nur noch, wie wird er den Unsinn im Wörterbuch erläutern? Gewarnt durch seine veröffentlichten Fehldeutungen ehemals richtig erkannter und erläuterter Begriffe und durch die Sanktion umgangssprachlicher Schlampereien ist zu erwarten, daß er für den Ausdruck "davon ausgehen" in seiner nächsten Ausgabe des Wörterbuches die weitere Bedeutung als Verhunzungsvariante anführen wird, und zwar unter
Ziffer 13: (davon ausgehen) annehmen, erwarten, glauben, meinen, vermuten, hoffen, feststellen, unterstellen, sagen, der Ansicht sein, die Meinung vertreten, voraussetzen, wissen, schätzen, betragen, damit rechnen, befürchten, behaupten, bekannt geben, u.v.a.,
also gleichfalls bedeutungswidrig lautend wie die Einträge z. B. zu "mehrfach", "sich bedanken", "fähig" und "substantivierter Infinitiv". Oder wird er etwa mit einem überraschenden Zeichen von Verantwortung für die deutsche Sprache nach der Devise "Halt Leute, Bewegung tut gut, aber nicht in Form von Sprachschlamperei" warnen mit dem Hinweis: "Nur dann angebracht, wenn Tatsachen (Vermutungen, Annahmen) vorliegen, die die Grundlage für Folgerungen bilden."?
Die Zahl der Ersatzverben, die Aufzählung wird z. Zt. ständig durch neue, die Ausgehwelle verstärkende Verben ergänzt, deutet an, wie "zukunftsfähig" (auch so ein dudengeförderter Begriff) der gegenwärtige Sprachsalat durch die Ausgehfloskel verwässert wird. Sie steht zu Recht im Dummdeutsch-Wörterbuch (Reclam). Wird sie sich demnächst mit der ebenfalls weit verbreiteten Konjunktivitis zum "ich würde davon ausgehen" vereinen? "Man kann davon ausgehen." Weitere Erläuterungen
Weitere Beispiele
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