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Bildung Grade Titel XXXXXXXXXXXXXXXXXXXX / Das deutsche Titelwesen XXXXXXXXXXXXXXXX / Der akademische Wirbel der Grünen / Das 'Sommertheater' / Der akademische Fehlpass
 

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Neumanns akademischer Fehlpass

 Der deutsche Doktor-Zirkus mit neuer Ausrede 

Erwiderung auf Neumanns Antwort

 
Brief an Herrn Neumann, MDB, vom 28.8.2011

Doktorgrad in Pass und Ausweis
Auf Ihre E-mail-Antwort vom 10.8.2011  
                                                    
28.8.2011

Sehr geehrter Herr Neumann,

vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie Zeit und Gedanken dafür eingesetzt haben. Wegen einer Reise antworte ich erst heute.

Zusammenfassung
  1. Einigkeit
  2. Der Irrtum
  3. Bart, Haarschnitt, Brille und
      körperliche Höchstleistungen im Pass?
  4. Schäubles Versuch 2007
  5. Informationsdefizit
  6. Der deutsche Doktor-Zirkus
  7. Mit wissenschaftlicher Schonkost zu Ansehen
  8. Sonderfall: Dr. med.
  9. Narrenfreiheit für den Gesetzgeber?
10. Der Bürger ist machtlos
11. Guter Wille statt Änderung des Gesetzes
12. Die Doktor-Lobby
13. Maßnahmen im Wissenschaftssystem
14. Ungleichbehandlung der akademischen Grade

1. Einigkeit

Erfreulicherweise eint uns die Kenntnis
  1. der Urteile von BVH und BGH zu akademischen Graden,
  2. der Feststellung der Gerichte, dass der Doktorgrad weder Namensbestandteil noch 
      Berufsbezeichnung ist, ferner
  3. die genannten Urteile waren nicht der unmittelbare Anlass für Schäubles Vorstoß im
      Bundesrat vor 4 Jahren, um den Eintrag des Doktorgrades in Pass und Ausweis 
      abzuschaffen (das wäre ja auch ziemlich spät nach 45 Jahren Missachtung der 
      Rechtsprechung), sondern diente zu Entlastung der örtlichen Behörden,
  4. Pass und Personalausweis dienen der Identifizierung von Personen, 
  5. der Inhalt der „Grünen“-Drucksache 17/5195 zum Promotionswesen an deutschen
      Universitäten weist mit der Forderung der Grünen, den Doktorgrad nicht mehr in Pass
      und Ausweis einzutragen, keinen direkten Zusammenhang auf  und schließlich
  6. die jüngst bekannt gewordenen Plagiatsfälle haben ein generelles Defizit im
      Wissenschaftssystem offengelegt.

Positiv sehe ich auch, dass Sie Frau Sagers Vorstoß nicht mehr grundlos mit Bezeichnungen wie „Sommertheater“ und „Witz“ abwerten. 

2. Der Irrtum

In einem wesentlichen Punkt vertreten Sie jedoch eine – gelinde gesagt – außer-gewöhnliche Meinung. Es ist mir und in meinem Bekanntenkreis unverständlich, wie ein Abgeordneter Ihres Bildungsstandes und in Ihrer Position als bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion behaupten kann, „der Doktortitel trage wie andere Merkmale wie Größe und Augenfarbe zur Identifizierung einer Person bei“. Trotz Abschwächung der zwingenden „Erforderlichkeit“ mit Begriffen wie “beitragen“ und „dienen“ bleiben Sie fern der Realität. Mit diesen schwammigen Kriterien würde der Ausweis seitenlang werden.

3. Bart, Haarschnitt, Brille und körperliche Höchstleistungen im Pass?

Größe und Augenfarbe sind unveränderliche körperliche Merkmale einer Person, der (hoffentlich) echte und redlich erworbene) Doktorgrad gehört dagegen nicht dazu. Er wird nur auf Wunsch eingetragen und eignet sich nicht als Identifizierungsmerkmal, so wie ein Bart, ein Haarschnitt, eine Brille oder körperliche Erfolge. Unter den Daten für die erkennungsdienstliche Behandlung ist der Doktorgrad aus triftigem Grund nicht vermerkt. Ihre Informationslücke ist im Bundestag kein Einzelfall. Im Jahre 2007 behauptete Ihr Bundestagskollege Dieter Wiefelspütz (SPD) sogar, „der Doktorgrad sei Bestandteil des Namens“.

Viele Menschen schätzen körperliche (sportliche) Höchstleistungen mehr als eine ihnen unverständliche Dissertation. Warum werden dann nicht auch bspw. Weltmeister, Europameister und Deutsche Meister im Pass vermerkt? Analog dem Doktorgrad abgekürzt mit WM, EM bzw. DM, also ohne Angabe von Disziplin und Jahr des Erfolges -  nach meistens quälenden Jahren der Vorbereitung (Training). Forschungsleistungen an Polen, auf Bergen, unter Wasser und in Wüsten sind mindestens ebenso anerkennenswert wie bspw. die Erörterung des Themas „Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern“. Der Verfasser der Dissertation im Jahre 1978 wird lebenslang mit „Herr Doktor“ geehrt.

4. Schäubles Versuch 2007

Ihre Darlegungen zum Doktorgrad sind auch deshalb bedenklich, weil Sie damit ohne Grund eine völlig neue Diskussion beginnen. Wenigstens bei der Auslegung des Begriffes Identitätsfeststellung im Zusammenhang mit dem Doktorgrad im Ausweis bestand bisher und besteht hoffentlich weiterhin Einigkeit. So begründete Wolfgang Schäuble seinen mutigen Vorstoß vor 4 Jahren zur Abschaffung der eitelkeitsbefriedigenden Doktor-eintragung im Ausweis mit einer ganzen Reihe von sachlichen und nicht infrage gestellten Gründen. Doch nicht einmal eine Andeutung Ihres völlig neuen und absurden Arguments enthielt der Antrag Schäubles im Bundesrat. Auch in den jahrelangen Diskussionen zu diesem Thema mit Mitgliedern von Regierungen, Parlament und Parteien (in Bonn und Berlin), zuletzt vor einem Jahr mit dem Bundesministerium des Innern wurde nie Ihre, sondern stets meine (= offizielle) Ansicht geteilt und bestätigt. In der münchner Passbehörde hat man – höflich ausgedrückt – über Ihre Ansicht nur den Kopf geschüttelt.

5. Informationsdefizit

Bevor Sie Ihr inhaltsloses Argument, das schon eher den Anschein einer Sommerloch-Sprechblase erweckt, in der Fraktion besonders wegen der doktorfreundlichen Signal-wirkung weiter vertreten, bitte ich Sie, sehr geehrter Herr Neumann, dringend, sich über das Thema Doktorgrad im Pass eingehend zu informieren, auch, um die bisherige Diskussion nicht plötzlich und ohne triftigen Grund mit einem weiteren unsinnigen Gedanken zu belasten. Auf meiner Webseite erhalten Sie ausführliche Informationen. Dabei würden Sie z. B. auch erfahren, dass der Doktorgrad nach dem neuen Passgesetz auf Wunsch nicht grundsätzlich, sondern nur dann vor dem Namen eingetragen wird, wenn der Name nicht zu lang ist (vergl. „Passgesetz und Passverwaltungsvorschrift“ von Irmgard Sinock, 2009“). Auch der Artikel „Flachforscher“ von Martin Spiewak in der aktuellen Ausgabe der ZEIT vom 25. August 2011, S. 31,32 dürfte zum Erkenntnisgewinn beitragen.

6. Der deutsche Doktor-Zirkus

Warum eigentlich veranstaltet Deutschland im 21. Jahrhundert immer noch so einen lächerlichen Zirkus um den Doktorgrad? Muss der Welt mit diesem aussagearmen Bildungshinweis bewiesen werden, dass es bei uns Universitäten gibt? Ausgerechnet ein irrationaler Begriff wie  „Tradition“ muss herhalten, um im Pass die akademische Bildung zu belegen oder die Findigkeit sie vorzutäuschen. In den USA, Frankreich etc. ist eine solche akademische Angabe undenkbar. Die Anpassung der deutschen Passgestaltung an internationale Gepflogenheiten war einer von Schäubles Beweggründe (Abs. 4). Wenn nicht als Skandal, Herr Neumann, wie möchten Sie es denn bezeichnen, wenn sich erwachsene, angeblich gebildete Menschen mit staatlicher Hilfe eine Art „Persilschein“ ausstellen lassen, der ihnen eine bestandene Prüfung weitleuchtend bescheinigt mit der Garantie lebenslanger Leuchtkraft. Scheinheilig oder, wenn es Ihnen lieber ist, Heuchelei ist es, wenn in Deutschland Titelhandel und Plagiate einerseits verurteilt werden, andererseits jedoch mit dem ohne sachlichen Zwang verordneten Doktoreintrag in Pass und Ausweis Drang bis Gier nach dem Titel unterstützt wird. Insofern besteht ein deutlicher Bezug von gesellschaftlichen Eitelkeiten und von Titelhuberei, wie Frau Sager sich ausdrückte, zu den Plagiaten und anderen Methoden des Titelerwerbs. Nur zugegebenen wird es aus verständlichen Gründen nicht.

7. Mit wissenschaftlicher Schonkost zu Ansehen

Die Dissertation soll die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten beweisen, mindestens glaubhaft machen. Ob das gelingt, hängt weitgehend von der Fachrichtung ab, siehe Abs. 8.  Ein nicht seltenes Motiv für den (besonders mehr oder weniger unredlichen) Erwerb des Doktortitels sind Status, berufliches Fortkommen, Gehaltsansprüche und vor allem das hohe Ansehen, das die zwei Buchstaben Dr. vor dem Namen dem Titelträger sichern, und zwar ohne sachliche Begründung lebenslang, auch dann, wenn wissenschaftliche Schonkost - mit summa cum laude bewertet  - unbekannt bleibt und im Archiv landet.

8. Sonderfall: Dr. med.

Spiewak berichtet in der ZEIT von den „medizinischen Doktorarbeiten, die in der Wissenschaft einen besonders schlechten Ruf haben.“ Der im Artikel erwähnte Begriff Dr. med. Dünnbrettbohrer“ erinnert mich an die Bücher von Achim Schwarze über „Die Dünnbrettbohrer in Bonn - Aus den Dissertationen unserer geistigen Elite“ (1984) und „Noch mehr Dünnbrettbohrer - Eine Materialschlacht der Dummheit“ (1987). Schwarze schrieb früher selbst Dissertationen für zahlungskräftige Studienabgänger. Kurze Bearbeitungszeit, sogar während des Studiums ist der Grund dafür, dass laut Spiewak „der deutsche Doktortitel der Heilkunst akademische Massenware ist“, im  Jahr 2009 wurden 7700 Doktorgrade vergeben, die oft nicht den wissenschaftlichen Standards genügen, „international als Titel zweiter Klasse angesehen werden und vom Umfang und Thema her meist einer – schmalen – Diplomarbeit in den Naturwissenschaften entsprechen“. (Die gleiche Titelanzahl fielen auf sämtliche Juristen, Ingenieure, Geistes- und Wirtschafts-wissenschaften zusammen.)

Eine Änderung der bedauerlichen Situation scheint nicht in Sicht, jedenfalls solange der Präsident des Medizinischen Fakultätentages Dieter Bitter-Sauermann feststellt, „Medizin habe nun einmal ihre eigene Promotionskultur“. Dass „den Ärzten in der Bevölkerung eine besondere wissenschaftliche Kompetenz zugesprochen wird (Herr Doktor!), erscheint anderen Disziplinen als schlechter Witz“, mein Spiewak.

Seit 2004 ist ein Vorschlag des Wissenschaftsrates bekannt, den Medizinabsolventen, die nicht in die Forschung gehen wollen, mit der Approbation die Berufsbezeichnung „Medizinischer Doktor“ (MD) zu verleihen. Ob auf diese Weise die Reduzierung der Medizin-Doktortitel gelingt, scheint fraglich. 

In seinem neuen Buch des Max-Planck-Forschers Gerd Gigerenzer „Better Doctors, Better Patients, Better Decisions“ berichtet er über die Wissenslücken der Ärzte.

9. Narrenfreiheit für den Gesetzgeber?

Natürlich kann der Gesetzgeber nicht gehindert werden, „objektiv-rechtlich festzulegen, dass der Doktorgrad in bestimmte Dokumente aufgenommen werden kann oder soll.“ Aber dann muss er das auch konsequent tun. Wenn wie im vorliegenden Fall unstrittig, der Doktorgrad kein Bestandteil des Namens ist, dann dürfte er nicht in der Namens-, sondern müsste in einer separaten Zeile eingetragen werden.

10. Der Bürger ist machtlos

Auch in der Politik wird häufig die Vernunft von der Eitelkeit besiegt. Der kritische Normalbürger kann sich dann trotz sachlicher und fundierter Argumente auf den Kopf stellen; er blitzt ab, vor allem dann, wenn die beanstandete Entscheidung den Personen, die an  ihr auch im Sinne weiterer Personen mitgewirkt haben, persönliche Vorteile bringt. So wurde auch ich im Pass-Doktor-Fall vom Bundesministerium des Innern mit der Politikverdrossenheit fördernden Formel abgespeist:

„Es handelt es sich dabei um eine Entscheidung demokratisch legitimierter Verfassungsorgane, an die das Bundesministerium des Innern gebunden ist.“

Mit diesem Hammerschlagargument kann jede gesetzliche Regelung, ob unsinnig, falsch oder urteilswidrig erfolgreich verteidigt werden
.  
11. Guter Wille statt Änderung des Gesetzes

Wer von uns beiden „juristisch gesehen einem Irrglauben aufgesessen“ ist, das zu beurteilen möchte ich Dritten überlassen. Sachlich begründet haben Sie Ihre mich betreffende Behauptung nicht. Es trifft zu, dass „es keiner Gesetzesänderung zur Streichung des Doktorgrades aus den Angaben des Personalausweises bedarf.“ Es reicht nämlich aus, Schäubles Vorschlag aus 2007 zu aktivieren und im Bundesrat zuzustimmen.  Die Gründe sind bekannt und harren seit 50 Jahren der Anerkennung von den gesetz-gebenden Organen und den Fraktionen im Bundestag. Aber dazu müssten die Promovierten auf die traditionellen Privilegien verzichten oder schlicht gesagt, akademisch nackt herumlaufen. Sie müssten sich damit begnügen, die ihnen so wichtig erscheinenden Bildungssignale an anderen Orten der Öffentlichkeit darzubieten wie Webseiten, Visitenkarten und Türschilder. Dafür schlage ich erneut vor, den Doktortitel vollständig hinter dem Namen mit Ort und Datum des Erwerbs zu nennen.

12. Die Doktor-Lobby

Bei meinem jahrzehntelangen Bemühen um eine sachgerechte Bewertung und Behandlung des Doktorgrades bin ich bei allen zuständigen Stellen und Institutionen  an eine Wand von Ignoranz und Schweigen gestoßen. Zufall? Meinen Hinweis auf die Doktorlobby halte ich daher weiterhin aufrecht. Ich möchte Ihnen glauben, dass Sie nicht dazu gehören. Ich verstehe auch, dass Sie die „rechtsstaatliche faulende Wunde“, auf die Frau Sager mit ihrer Kritik am Doktoreintrag hingewiesen hat, mangels vollständiger Kenntnis der Sachlage, nicht sehen, geschweige zur Heilung beitragen können. Ich würde mich schon freuen, wenn ich Sie wenigstens nachdenklich stimmen konnte.

13. Maßnahmen im Wissenschaftssystem

Den Verantwortlichen an den Hochschulen wie auch den Experten in Wissenschaft und Politik wünsche ich viel Erfolg, wenn sie die aufgedeckten Missstände und Probleme mit geeigneten  Maßnahmen künftig vermeiden wollen. Die Belastung würde merklich abnehmen, wenn die Doktorandenzahl mangels Passeintrag des Titels spürbar kleiner würde. Erfolge im medizinischen Bereich erwarte ich nicht so bald, siehe Abs. 8.

14. Ungleichbehandlung der akademischen Grade

Der akademische Diplom-Grad ist laut BGH-Urteil auch keine Berufsbezeichnung, wie Sie es im Netz glauben machen. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auf ein weiteres Fehlverhalten des Gesetzgebers nochmals hinweisen, das auch kürzlich in „facebook“ im Zusammenhang mit Frau Sagers Vorschlags erwähnt wurde und auf das Sie meines Wissens keine Antwort gegeben haben: Die Ungleichbehandlung akademischer Grade. Ihre Stellungnahme bestätigt nur Ihr Sehvermögen. Offenbar nehmen Sie und Ihre Partei-freunde den im Grundgesetzt verankerten Gleichheitsgrundsatz nicht ernst, obwohl Sie selbst diesen akademischen Grad erworben haben. Den Grund dafür zu erfahren wäre hilfreich, um auch zu verstehen, warum Sie und Ihre Fraktion den Verstoß des Gesetz-gebers gegen Art. 3 GG tolerieren. Hier liegt ein weiterer Grund vor, das Bundesverfassungsgericht anzurufen.

Mit freundlichen Grüßen  

Ulrich Werner

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