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Leben und sterben lassen
 Drei Viertel aller Sprachen sind in 100 Jahren tot. Na und? - Von Urs Willmann

DIE ZEIT 10/2002

Das Übel heißt Englisch. Sprachpuristen und Heimatschützer ziehen in den Kampf gegen die angelsächsische Sprachglobalisierung. Mit jedem Anglizismus, der in ihre Muttersprache kriecht, werden sie zu noch feurigeren Antiimperialisten. Auch andere Eroberer stehen in der Kritik: Arabisch, Russisch, Mandarin.

Im Lamento um Verhunzung und Verdrängung wird allerdings oft vergessen, dass eine Sprache reifen kann, ohne dass ihr Charakter verdorben wird. Was wäre das Französische ohne bistrot, einen Import aus dem Russischen? Was wäre Deutsch ohne Pyjama? Man sollte einer Sprache Leben zugestehen. Und zum Leben gehört bekanntlich der Tod.

Doch jeder Wegfall eines Dialekts wird beweint wie das Sterben einer Kreatur.

Am lautesten, wenn die Unesco, wie vergangene Woche, ihren Atlas der bedrohten Sprachen samt "alarmierendem Befund" veröffentlicht, wonach die meisten der 6000 Idiome bedroht sind. Dann kommen Menschen zu Wort, mit denen keiner mehr sprechen kann. In den Inuitsprachen Eyak und Sirenikski können sich gerade noch je zwei miteinander verständigen. Fünfzig Idiome werden gar nur noch in Selbstgesprächen verstanden. Zum Beispiel Kurisch.

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