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Bildung Grade Titel XXXXXXXXXXXXXXXXXXXX / Stil & Etikette / Der GROSSE KNIGGE als Traditionshüter / 12. GESAMT
 

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Der GROSSE KNIGGE als Traditionshüter

12. Gesamt 

 

An Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG
„DER GROSSE KNIGGE“ - Mit Takt und Stil zum Ziel

                                                                                                     München, den 24.5.2012

Sehr geehrte Frau Jarosch,

für die Übersendung des Testexemplars der „Große Knigge“ und des „Insider Buches“ danke ich Ihnen. Die neue Benimm-Anleitung entspricht im wesentlich der Ausgabe „Stil & Etikette“ vor 6 ½ Jahren. Sie ist sicher wieder hilfreich. Umgangsformen ändern sich, es gibt neue Interessenten und nicht gerade vorteilhafte Gewohnheiten breiten sich aus und tragen zu Unsicherheiten im Verhalten bei. Die ansprechende Aufmachung und der präzise, fehlerfreie sowie angenehme Schreibstil laden jederzeit zum Weiterlesen ein. Also insgesamt ein gelungener Begleiter für jedermann, der Tritte ins Fettnäpfchen vermeiden will. Dennoch möchte ich erneut auf einen wunden Punkt hinweisen, nämlich das Thema, das Sie auf Seite 10 der Zusatz-Broschüre „Knigge-Regel …oder Knigge-Märchen?“ besonders ansprechen. Dort heißt es:

Für mehr Ansehen, mehr Anerkennung und mehr Erfolg: Erfahren Sie die zwischenmenschlichen Geheimnisse

Übersicht
1. Begriffsbestimmung
2. Die Gesellschaft wird moderner
3. Die Überbewertung des Doktorgrades
4. Lebenslange Anerkennung
5. Die Dünnbrettbohrer
6. Tradition geht vor Realität
7. Beckstein gegen Schäuble
8. Die Zweiklassengesellschaft
9. Trat ein Knigge-Rat in ein Fettfass?
10. Moderne Technik – antiquierte Anrede
11. LINK-Übersicht
12. Gesamt

1. Begriffsbestimmung
Akademische Grade sind ein System von Würden, die nach Abschluss eines ordnungsgemäßen Studiums oder nach Erbringung einer wissenschaftlichen Leistung von einer Hochschule - d. h. durch akademische Behörden, wie z. B. Fakultäten, Fachbereiche oder deren Prüfungsausschüsse - verliehen werden. Der Professorentitel ist kein akademischer Grad. Er wird zwar auch verliehen. Aber mit der Ernennung zum Professor ist die entsprechende Einweisung in ein Amt eines Hochschullehrers durch das Wissenschaftsministerium verbunden. Die Bezeichnungen Titel und Grad sind nicht beliebig austauschbar. Im Volksmund wird nicht zwischen Titel und Grad unterschieden; auch im Doktorgrad wird ein Titel gesehen.

Akademische Grade, zu denen im deutschen Bildungssystem neben dem Diplom seit geraumer Zeit auch der Bachelor und der Master zählen, sind also nach wie vor keine Titel, vor allem der Doktorgrad (Link 1). Diese Grade sind im „GROßEN KNIGGE“ überhaupt nicht erwähnt. Laut Impressum arbeitet sogar Frau Dipl.-Ing. Monika Graf in einflussreicher technischer Funktion als Leiterin der Herstellung der Loseblatt-Zeitschrift bei Ihnen. Sollten Sie etwa auch dem Irrtum unterliegen, dass der akademische Grad „Dipl.-Ing.“ eine Berufsbezeichnung ist? Der BGH vertritt eine andere Meinung. Ferner muss ein mit „Doktor“ angesprochener Arzt nicht promoviert sein, wie das zur Zeit bei etwa 30% der Ärzte der Fall ist. Schließlich sind akademische Grade kein Bestandteil des Namens (BVG 1957 u. BGH 1962) (Link 2).

Eine eindeutige Begriffsbestimmung zu akademischen Graden und Titeln halte ich für dringend erforderlich. Meine Hinweise in 2005 zu diesem Thema haben Sie nicht ernst genommen und ignoriert. Unser Briefwechsel ist auf meiner Website dokumentiert (Link 3). Außerdem bewegte sich in den vergangenen 5 Jahren nicht nur gesetzlicherseits einiges in der deutschen Titelszene, sondern die moderne Gesellschaft löst sich immer mehr von der antiquierten Titelei des vergangenen Jahrhunderts. Vielleicht kann ich Sie, sehr geehrte Frau Jarosch, mit weiteren Argumenten wenigstens etwas nachdenklich stimmen. Denn ich zweifle, ob „Der große Knigge“ im Bereich „akademische Titel“ das Prädikat „modern“ verdient. Vergl. meinen Brief vom 19.5.2012 an den Knigge-Rat.

2. Die Gesellschaft wird moderner
Der Titelpflegekreis mag sich noch so hartnäckig dagegen wehren, die Realität anzuerkennen: Vor allem in den Sendungen von Funk- und Fernsehen wird kaum mehr ein akademischer Grad genannt, was prinzipiell nicht einmal Höflichkeit fordert. In den Druck- und Funkmedien werden Grade und Titel immer auffälliger ignoriert. Das Gleiche gilt für die Berichte in überregionalen Druckmedien. Auf die Idee, dadurch einen nichtbetitelten Titelträger zu beleidigen oder herabzusetzen, kommen höchstens Betroffene, die den Titel als unverzichtbares Statussymbol benötigen. Die vorbildlichen Beispiele für selbstbewusstes Verhalten von Autoren und Moderatoren werden zwar durch vereinzelte Darbietungen von übertriebenem Titelrespekt konterkariert. Beispiele bietet z. B. regelmäßig der Bayerische Rundfunk mit seinem landesweit wochentags ausgestrahlten „Tagesgespräch“ und dem samstäglichen „Gesundheitsgespräch“.

In den jeweils ausgezeichneten und lehrreichen Sendungen werden – von Ausnahmen einzelner selbstbewusster Moderatoren abgesehen – die Titel und Grade der Studiogäste ständig wiederholt. Das devote Verhalten passt nicht zum gewandten und sachkundigen Auftreten der Moderatoren. Die auffällige Titelei soll offenbar daran erinnern, dass der anwesende Studiogast besonders sachkundig ist, was damit keinesfalls garantiert ist. Die Folge: Ein Gespräch in Augenhöhe wird verhindert. Selten wagt es ein Anrufer, den Studiogast (nur) mit dem Namen anzusprechen. Eher schrumpft er vor Ehrfurcht. Der Anrufer sitzt automatisch eine Etage tiefer. Der Gedanke, selbst mehr zu leisten als der „Fachmann“ im Studio, nur auf einem anderen Fachgebiet, wurde ihm längst in der Vergangenheit abgewöhnt.

3. Die Überbewertung des Doktorgrades
Wer unsicher ist oder Angst hat, Titel und Grade in der Anrede falsch anzugeben, mag die Vorschläge im Knigge begrüßen. Und wer wie allgemein üblich über den Studienabschluss des Promovierten nichts Näheres weiß oder der zutreffenden Ansicht ist, es bestehe keine Verpflichtung zur Anrede mit einer der akademischen Auszeichnungen, wird verunsichert. Er muss sogar aus den Beispielen im KNIGGE folgern, Titel und Doktorgrad müssten in jedem Fall in der Anrede erwähnt werden. Sie erwarten also von mündigen, gegebenenfalls auch gebildeten Bürgern, dass sie Mitbürger mit einem hoch geschätzten Titel ansprechen, ohne Näheres über diesen und seinen Erwerb zu wissen. Das organisierte Verteilen von Vorschlusslorbeeren halte ich für sehr bedenklich. Es schafft Vorurteile und erschwert den Umgang mit Menschen, erst recht in einer modernen und aufgeschlossenen Gesellschaft. Die Empfehlung als Regelverhalten kann nur verstehen, wer sich von den trägen Gesellschaftsstrukturen alter Zeiten nicht lösen kann. Deutschland ist und bleibt in der Völkergemeinschaft mit seiner antiquierten Titelsucht und Titelverehrung zunehmend isoliert. Man spricht schon von „Dr. Deutschland“.

Die Ursache für die traditionelle pauschale Überbewertung des Doktorgrades entstand unter obrigkeitsstaatlichen Gesellschaftsstrukturen. Das Universitätswesen mag damals besondere Situationen im Bildungswesen geschaffen haben, heute gelten andere Ver-hältnisse und Bedingungen, auch zum Promovieren. Die automatische Anrede von Promovierten mit dem „Doktortitel“ wird noch immer von sogenannten Benimm-Dich-Zirkeln befürwortet, wenn nicht gefordert. Sie mögen guten Glaubens oder im Abhängigkeit von Promovierten handeln, wenn sie als Traditionshüter auftreten. Bedenklich ist der übliche Hinweis, der sich wie ein Vorwurf anhört, es sei eine Frage der Höflichkeit, die Kompetenz und das Fachwissen des Promovierten anzuerkennen. Welches Fachwissen? Wenn wenigstens das Studienfach bekannt wäre.

Die zwei Buchstaben Dr, mit denen sich Promovierte schmücken dürfen, bieten nicht einmal einen vagen Anhalt für die angeblich überdurchschnittliche wissenschaftliche Leistung, eher ihre Verschleierung. Wer ahnt schon, dass der hoch geschätzte Doktortitel mit einer „Dissertation“ über das Thema„Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern“ erworben wurde? (1978 in München).Wie in deratigen Fällen üblich, wurden einzelne Krankheitsfälle dokumentiert und danach beurteilt.

Was bleibt also übrig als Nachweis für die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken und Arbeiten? Nur der traditionelle Glaube an die besondere Leistung, und der stützt sich auf das Vertrauen der Öffentlichkeit auf die Zuverlässigkeit und Sachkunde der für die Beur-teilung der Promovenden zuständigen Promotions-ausschüsse der Unis. Deren Arbeits-weise wurde kürzlich im Fall des Betrügers zu Guttenberg bekannt. Die Mehrzahl der Promovenden möge korrekt bewertet worden sein; wesentliche Informationen über die Voraussetzung der Titelvergabe (Fakultät, Thema der Dissertation, ev. Einzelheiten davon) bleiben dennoch unbekannt, nach vielen Jahren sogar dem Verfasser. Die organisierte Geheimhaltung der Dissertationen könnte nur eine Datenbank verhindern, in der alle in Deutschland geführten Titel und Grade dokumentiert und abrufbar sind.

Warum die Hochschulrektorenkonferenz in den 60iger Jahren bewirkt hat, den Doktorgrad stets ohne Fakultätsangabe zu nennen, womit sie ein auffälliges Symbol für ein geistiges Vakuum einführte, wurde nicht begründet. Etwa, damit bei Fehlverhalten eines Promovierten nicht die jeweils zuständige Fakultät in Verruf kommt? Keine Handwerksinnung käme auf die absurde Idee, einen Tischlermeister anzuweisen, er solle sich nach bestandener Meisterprüfung (nur) „Meister“ nennen. Analoge Informationsbeschränkungen oder treffender Informationsverhinderungen sind bei allen Berufen und Sportarten möglich jedoch nicht üblich.

4. Lebenslange Anerkennung
Der lebenslang als Namensteil missbrauchte „Doktortitel“ förderte einen Personenkult, fast einer Heiligenverehrung gleich, mit einer automatisch eintretenden Überhöhung des gesellschaftlichen Ansehens. Nach Ansicht der wissenschaftspolitischen Sprecherin von Bündnis90/Die Grünen, Krista Sager, ist es in einer demokratischen Gesellschaft wenig sinnvoll, „an Traditionen festzuhalten, die so tun, als sei es mehr als ein wissenschaftlicher Qualitätsnachweis, sondern so eine Art Ehrentitel oder eine Art kleiner bürgerlicher Adelstitel, wie es Professor Stefan Hornbostel am 9.11.2011 in einem Fachgespräch zum Thema „Qualität wissenschaftlicher Arbeiten“ bei uns im Ausschuss im Bundestag bezeichnet hat.

In der Regel fehlt auch bei ehrlich erworbenen Doktorgraden der Nachweis einer mindestens überdurchschnittlichen wissenschaftlichen Leistung. Die Gesellschaft zweifelt nicht daran. Sie begnügt sich vertrauensvoll mit dem Anschein, zeigt höflichen Respekt und reagiert nicht einmal, wenn im nicht seltenen Einzelfall „Der meist geringe Erkenntnisertrag mit gesteigerter Reputation vergolten wird“ (WAZ im Jan. 2012) (Link 5).

5. Die Dünnbrettbohrer
Wer jedoch die Bücher von Achim Schwarze „Dünnbrettbohrer in Bonn" (1984) und „Noch mehr Dünnbrettbohrer“, Eine Materialschlacht der Dummheit - Aus den Dissertationen unserer Elite gelesen hat, der wird stutzig und fragt, wie sich ein allgemein praktiziertes Verehrungssystem entwickeln konnte, das auf derart schwachen Füßen steht und der Gesellschaft im zwischenmenschlichen Bereich kaum einen Vorteil bringt. Es profitiert allein nur der Titelträger, und zwar besonders auch dann, wenn, wie häufig der Fall, Studierende mit nichtwissenschaftlichen Motiven (weltliche, persönliche und finanzielle Ziele) zum Erwerb des Doktorgrades drängen. Besonders begehrt ist der Eintrag in Pass und Ausweis sowie auf Visitenkarte, Türschild und Briefbogen. Stichwörter dazu: Eitelkeitspromotionen, Ehrentitel, Türschildpromotionen und Karrierebeschleuniger. Nicht zu übersehen sind therapeutische Effekte. Die akademische Verzierung des Namens eignet sich erfolgreich, um persönliche Eitelkeiten zu befriedigen und psychische Defizite auszu-gleichen. Dafür sind alle – auch unredlichen Mittel recht. Die Ergebnisse der „wissenschaftlichen Anstrengungen“ fallen dementsprechend aus: Die Doktorarbeiten, vor allem die medizinischen wirken wie eine dünne Proseminararbeit, die den wissenschaftlichen Mindeststandards nicht genügen. Das seriöse Bildungssystem verbündet sich mit dem strafbewehrten Titelhandel. Dieser erhält gesetzlich geförderte einträgliche Impulse. Die zahlreichen Angebote im Internet sind kaum übersehbar und werden auch genutzt.

6. Tradition geht vor Realität
Das hohe Ansehen des Doktorgrades, im Einzelfall nicht unbegründet, wird verständlicherweise von den Promovierten gepflegt und verteidigt. Eine längst fällige Änderung der Praxis stößt bei den Betroffenen auf Widerstand. Gerade sie profitieren von dem unbegründet lebenslangen hohen Ansehen. Sie möchten auf dieses Privileg keinesfalls verzichten. Wie erfolgreich die Doktorlobby seit 50 Jahren tätig war, beweist das erfolgreiche Verschweigen und Ignorieren der Rechtsprechung zum Namensrecht. Bundesregierung, Parlament und Behörden verzieren beharrlich grundsätzlich den Namen von „Titel“-Trägern mit dem „Titel“. Meist weist das verschwiegene und unbekannte Studien- oder Lehrfach keinen Bezug zur beruflichen Tätigkeit auf. Es ist erstaunlich, dass über eine öffentliche, hoch geachtete, konsequenzenreiche und begierig angestrebte akademische Auszeichnung im Einzelfall kaum etwas bekannt ist.

7. Beckstein gegen Schäuble
Seit geraumer Zeit mehren sich Zweifel in der Gesellschaft, ob die traditionell besondere aber international unübliche Beachtung des Doktorgrades noch zeitgemäß ist, wie sie vor allem teilweise noch in der Anrede zum Ausdruck kommt. Internationale Diskrepanzen und der enorme Verwaltungsaufwand in den Passämtern durch die deutsche Titelhuberei stärkten schließlich sogar auf höchster Ebene der Gesellschaft die Erkenntnis, dass der Eintrag des „Titels“ in den Ausweispapieren sachlich nicht begründet ist. In der Öffentlichkeit kaum bemerkt wollte daher der promovierte Jurist und ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in der vorigen Legislaturperiode (2007) den Doktoreintrag aus mehreren, vor allem den genannten Gründen abschaffen. Damit wäre es ihm gelungen, unauffällig den Skandal zu beseitigen, dass im viel gepriesenen Rechtsstaat Deutschland die Hochsicherheitsdokumente Pass und Ausweis von einem bestimmten Personenkreis als Visitenkarten missbraucht werden können. Akademische Bezeichnungen, die kein Bestandteil des Namens sind und daher auch nach Ansicht des Innenministeriums nicht zum Iden-tifizieren einer Person dienen, sind in Pass und Ausweis überflüssig. Um diese Ansicht zu erhärten, bedarf es keines Rechtsgutachtens. Doch Bayerns Innenminister Günther Beckstein (Dr. jur.) und das Land Thüringen waren gegen diese Streichung. Aber nicht etwa, weil andere, wichtigere Gründe für die Beibehaltung des Eintrags sprachen, sondern Beckstein war die Pflege der Tradition wichtiger, als rechtsstaatliche Verhältnisse herzustellen. Eine Diskussion fand im Bundesrat nicht statt. Die Bundesratsmitglieder nickten zustimmend. Deutlicher konnte sich ein Staat vom Range Deutschlands nicht blamieren. Nicht Sachzwänge, sondern Eitelkeit und persönliche Empfindlichkeiten dienen weiterhin als Grundlage für gesetzliche Vorschriften. Der Titelhandel jubilierte über die staatliche offizielle Unterstützung seines Gewerbes. Derzeit liegt im Bundestag ein neuer Antrag vor, um Pass und Ausweis endlich bestimmungsgemäß zu gestalten. Immerhin ist der Professoren-Titel schon lange Zeit vom Eintrag in den Ausweispapieren ausgeschlossen, ohne Proteste auszulösen.

8. Die Zweiklassengesellschaft
Die Anredebeispiele im „Knigge“ bestätigen die Überbewertung des Doktorgrades und stellen seine Angabe in der Anrede als Vorschrift hin. Damit wird das daraus abgeleitete Vorurteil gepflegt, ein Herr Dr. Meier wisse, könne und leiste grundsätzlich mehr als der Herr Meier. Erfahrungsgemäß weckt dieser Vergleich nur falsche Erwartungen. Deutschlands antiquiertes Titelwesen diskreditiert sein noch angesehenes Bildungswesen. Gleichzeitig wird die große Mehrzahl der nicht promovierten Akademiker als „Studierte“ 2. Klasse behandelt und damit diskriminiert, obwohl dieser Personenkreis ebenfalls ein komplettes Hochschulstudium erfolgreich abgeschlossen hat (Verstoß gegen §§ 2 u. 3 GG).

9. Trat ein Kniggerat in ein Fettfass? 
Vorreiter für aufgeklärtes Verhalten in einer modernen Gesellschaft war im Jahre 1969 der „Fachausschuss für Umgangsformen“ des Deutschen Tanzlehrerverbandes“, „Kniggerat“ genannt. Auf dem „Internationalen Tanzlehrer-Kongress 69“ in Stuttgart berieten Deutschlands Tanz- und Anstandslehrer nicht nur neue Tanzschritte, sondern auch neue Benimm-Regeln. Nach Ansicht von Wolfgang Müller, promovierter Pädagogik-Professor aus Berlin, seien die alten Regeln oft noch "Mechanismen der Unterordnung". Kniggerats-Mitglied Müller, obwohl selbst von den angeregten Neuerungen betroffen, empfahl den "anglo-amerikanischen Brauch", auf Titel aller Art bei der Anrede zu verzichten und sie beim Vorstellen erst nach dem Familiennamen zu nennen. Müller möchte so vorgestellt werden: "Herr Wolfgang Müller, Professor für Sozialpädagogik in Berlin, Doktor der Philosophie." Vom Kölner Kniggerats-Mitglied Hans-Georg Schnitzer als Versuch bezeich-net, „Das durch Titel gekennzeichnete soziale Gefälle, ein Relikt der höfischen Epoche abzubauen“, blieb ohne Resonanz. Nur im Spiegel (15/1969) (Link 6) erkannte man offen-sichtlich die Brisanz dieser im Titeldeutschland richtungweisenden Idee des Kniggerat-mitgliedes Müller.

Weder in der Presse noch in der Öffentlichkeit, besonders in den Tanzschulen und Benimm-Dich-Kursen wurde die Anregung Müllers weiterverfolgt. Es liegt auf der Hand, welcher Personenkreis die Entstaubungsaktion des Deutschen Titelwesens blockiert. Müllers Vorschlag möchte ich ergänzen mit den ebenfalls wissenswerten Angaben von Ort und Datum des Erwerbs des Doktorgrades. Die bisher verschwiegene Information entspricht mindestens der Wichtigkeit, die die Promovierten dem Titel beimessen.

10. Moderne Technik – antiquierte Anrede
Mit der Empfehlung längst überholter Gewohnheiten aus der Vergangenheit, vor allem mit der unmissverständlichen Anweisung, Titel und Doktorgrad in der Anrede zu verwenden, verbreiten Sie ein bedenkliches, weil falsches Signal für den vorurteilsfreien Umgang mit Menschen. Das Internet bietet heute einen noch nie erreichten Umfang von Informationen. Auch die offizielle Verleihung von akademischen Auszeichnungen wie der Doktorgrad werden in Windeseile bekannt, allerdings beschränkt auf die Verzierung des Namens durch die zwei wenig aussagende Buchstaben (Dr.). Doch der wahre Grund für die Auszeichnung bleibt in der Regel unbekannt. Das übertriebene und oft unverdient hohe Ansehen der Promovierten, allein schon auf Grund des Doktorsymbols hat sich im kollektiven Gedächtnis der Menschen derart tief festgesetzt, dass sich niemand mehr dafür interessiert, ob die Voraussetzungen dafür erfüllt worden sind oder nicht. Sehr selten werden „schlafende Hunde „geweckt, wie der aktuelle Fall Schavan zeigt.

Mit den Anredeempfehlungen wird, wenn auch ungewollt, indirekt der strafbewerte Titelhandel unterstützt. Meinungslabile Bürger, also auch diejenigen, die die Rechtslage kennen, werden verunsichert. Der „Knigge“ billigt eine akademische Zweiklassen-Gesell-schaft, die sich in Deutschland als akademisches Abfallprodukt des Titelwesens etabliert hat. Dass die nichtpromovierten Akademiker ihre schon zur Tradition gewordene Diskrimi-nierung widerspruchsfrei ertragen, spricht für ihre Souveränität und für ihr Selbstbewusst-sein, Eigenschaften, die Promovierten allzu oft fehlen. Lieber halten sie den Pfeil „Titelneid“ im Köcher. Auf mich wurde er auch schon abgeschossen.

Ich appelliere an Sie, sehr geehrte Frau Jarosch, und an die sehr geehrten Damen und Herren der Redaktion des neuen „Knigge“, die Ausbreitung eines modernen und sachlichen Umgangs mit „Titeln“ aller Art in Deutschland zu unterstützen. Unsere moderne Gesell-schaft braucht keine unklar definierte Mischung aus akademischen Titeln und Graden, sondern Leistungsträger, die ihr Leistungsvermögen nicht lebenslang mit zwei Buchstaben andeuten. Bitte geben Sie ein deutliches Signal für mehr Gelassenheit bei der Anrede, d. h. weniger demütig, ergeben, ehrerbietig, diensteifrig, ehrfürchtig, demutsvoll und kniefällig, wie es einem freien und mündigen Bürger eines Rechtsstaates zukommt. Müllers Anregung aus 1969 könnte als Bezug dienen für eine Wende im Umgang mit den in Deutschland als ungemein wichtig angesehenen akademischen Auszeichnungen. Der neue GROSSE KNIGGE würde mit einer sachgemäßen Beurteilung und Bewertung der akademischen Bezeichnun-gen bei der großen Mehrzahl der Bürger den Informationswert steigern, besonders durch die Aufklärung über die Rechtslage und die daraus ableitbaren Folgen für die Gesellschaft. Der für einzelne Betroffene eintretende Verlust an Ansehen als Folge des Endes der lebenslangen Aufwertung im akademischen Adelsstand würde durch einen entspannten und vorurteilsfreien Umgang der Bürger mit einander mehr als ausgeglichen. Der Adel hat sogar die Abschaffung seiner Titel überlebt. Als zukunftsoffener Ratgeber können Sie nur profitieren. Der Freiherr würde Ihnen applaudieren. Das Ausland hätte schließlich keinen Grund mehr, sich über die typisch deutsche Titelverherrlichung zu amüsieren.

Mit freundlichen Grüßen
Ulrich Werner

C/ Frau Gabriele Holly info@knigge-rat.de
Frau Elisabeth Bonneau info@bonneau.de
Herrn Alexander Freiherr von Fricks ole.myrrhe@t-online.de
Herrn Rainer Wälde info@rainerwaelde.de

Links:
1: http://www.sprache-werner.info/index.php?id=1916 (Urteile)
2: http://www.politikexpress.de/waz-der-doktor-ist-kein-titel-kommentar-vonchristopher-onkelbach-557534.html (Akademische Titel und Grade)
3: http://www.sprache-werner.info/index.php?id=1923 (Anrede)
4: http://www.sprache-werner.info/index.php?id=6203 (Briefwechsel)

 



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